Was für ein Roman, der bereits zum Auftakt seiner schmalen 190 Seiten, und das schon im ersten Absatz, einen starken Eindruck von seinem Inhalt vermittelt: Der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß!
Was sich im weiteren Verlauf als unaufhaltsam voranschreitender Fluss eines poetischen Texts vermittelt, in Gestalt einander ablösender Variationen seines Themas. Was die Autorin mit der ihr eigentümlichen Sprachmelodie in Szene setzt, damit sich eins ins andere fügt. Um damit eine erstaunliche Sogwirkung zu entwickeln, die mich als Leser in den Bann zieht, um mich nicht so rasch wieder daraus zu entlassen.
Als einem Kaleidoskop dicht ineinander verwobener Ereignisse und nicht abreißender Metamorphosen seines Stoffs. Angefangen bei der aristokratischen, nordischen Mutter und ihres ranken Rückens und dem Dampf aus den schlammfeuchten Nüstern des Pferdes, auf dem sie als ihrem natürlichem Fortbewegungsmittel unterwegs ist. Im Gegenatz zur Gestalt des (Stief)Vaters ihrer Kinder und Großgrundbesitzers. Dessen Landgut aber wenig Rendite abwirft und sich dafür anbietet, es zu Geld zu machen. (S.7)
Um der Autorin zu ermöglichen, ihn als Despoten zu beschreiben, der er ist. Neben dem vielfach zitierten schmalen, scheuen Jungen, der nie auf spektakuläre Weise in Erscheinung tritt. Im Unterschied zum schönen Lars. Gleichfalls Teil ihrer Familie, der im Vergleich zum unauffälligen Jungen, über eine farbigere Biografie als dieser verfügt. Um genau wie die Geschichte jenes endlosen Sommers damit zu überraschen, dass nichts geschieht … als aus der Welt zu fallen … aus der er kommmt, hinein in eine andere Welt … wo Zeit und Licht stillstehen und der Staub in der Luft schwebt und flimmert und niemand etwas tut, außer (zu) leben … (S. 8/9)
Während andere sich lachend auf ein Eisenbett fallen lassen, und (sich) stundenlang lieben, ohne zu wissen, wer wer ist, ob es ein Geschlecht gibt oder viele, und (man) für eine Weile (die) Angst vor dem Körper vergisst … und vor dem Tod ..“ (S. 9/10). Als weiterem Bestandteil der Erzählung eines endlosen Sommer, der den Eindruck vermittelt, dass sich kaum mehr als eine lockere Sommergeschichte abspielt, um trotz allem Spuren zu hinterlassen.
Wovon anfangs keiner was weiß, weder der schmale und oh so feinfühlige Junge noch der schön gewachsene, kräftige Lars … die beide Brüder sein könnten und doch (wie oft bei solchen) das Gegenteil des jeweils anderen sind … (S. 15). Wenn die Geschichte wie einem Traum nachempfunden klingt (oder einem) Kitschroman … (oder) einer sündigen Praline (S. 18) eignet sie sich dennoch kaum dafür, sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen. Um stattdessen den Eindruck eines Traums zu vermitteln und seiner Kolission mit der Wirklichkeit. Wie in einem Film David Lynchs, den die Autorin auf S. 19 zitiert. Weil es im Fluss der Erzähling kein Zurück gibt, solange wir nicht am Ziel sind. Jedenfalls nicht (wie auf S. 82) im Sinne eines Pauschalurlaubs auf Malle oder Gran Canaria, aber, wie in diesem Fall, in den Pferdesteppen der Algarve Portugals. Während der endlose Sommer (sich) … behutsam weiterentwickelt und nicht stehenbleibt, als wäre nichts geschehen. (S. 85)
Erst nach Rückkehr der Mutter nach Jütland, wird sie zwei ihr bereits bekannten jungen portugiesischen Hitchhikern wiederbegegnen und diese von der Straße auflesen, um sie aufzufordern, in ihren Wagen einzusteigen. Vor dem Hintegrund des ihr vertrauten nordischen Landstrichs, als Gegensaz zu den zuvor geschilderten südlichen Gefilden. Während die beiden Portugiesen, … in den endlosen Sommer einziehen, als ein Teil von ihm. Wenn es sein muss, für den Rest ihres Lebens. (S. 88) Unterm Himmel, als einer Arabeske aus Licht-Schatten, die sich in ihren Gesichtern widerspiegeln. (S. 110) Während im Fluss dieser Erzählung alles zugleich geschieht, wie die Autorin auf S. 136 notiert, um zehn Seiten später, auf S. 146 festzustellen, dass nicht der Biss in den Apfel der Sündenfall ist. Sondern die Vostellung von einem Leben nach diesem …
Ein Coming-out erfolgt dagegen erst spät, weil sich alles, was geschieht, aus dem Nichts ergibt (wie auf S. 151/152). Und den schönen Lars betrifft, nicht aber den scheuen Jungen, der nicht weiß, dass er ein Mädchen ist. Dessen Bruder es vorbehalten bleibt, sich an der Haut eines anderen männlichen Jugendlichen zu reiben, dem er bei einem Ferienaufenthalt in den USA in den Straßen von San Francisco begegnet. Und der ihn mit der Frage auf den Weg bringt, den er mit ihm einschlagen will: Where du you come from? Untermalt von einem verdammt charmanten, sexy seufzenden Lächeln, mit dem beide zueinander in Beziehung treten. Während der Abend vergeht, es dunkel wird und der andere vorschlägt, zu ihm nach Haus zu gehen, was sie auch tun. (S. 152)
Ein Missklang im Rahmen der Ereignisse ereignet sich auf S. 159, als Diagnose einer folgenreichen, grässlichen Krankheit, die keine ist, sondern nur die Möglichkeit einer solchen … solange sie noch nicht ausgebrochen ist und zunächst nur aus drei Buchstaben besteht: HIV. Um schließlich in Vieren zu gipfeln, die der Roman ausspart, der Leser aber im Kopf hat – AIDS. (S. 160): Sie sagen, er soll kämpfen, durchhalten, viele leben jahrelang damit.
Doch kommt es, wie es kommen muss, weil wir in eine Phase eintreten, in der die Diagnose das Todesurteil vorwegnimmt: Er (in dem wir den schönen, männlichen Lars vermuten dürfen), schwebt wie schwerelos in einem Gespinst durchsichtiger Schläuche und Kabel, die mit Kanülen, Pflastern und Manschetten an seiner Haut befestigt sind, und, am anderen Ende blinkende Apparate und Beutel mit Flüssigkeiten und Blut, die von glänzenden Metallständern hängen; der wohlgestaltete Körper mit den schönen Händen verwandelt in ein Dutzend Knochen … (S. 167/168)
Ein Schicksal, das die Überlebenden beim Trauerkaffee beklagen, als Trauerrede des Cousins des verblichenen Lars, um zum Ausdruck zu bringen, dass der Tod Gottes Strafe (sei) für den sündigen Menschen und nichts ohne Sinn geschehe … Krankheit und Tod als Zeichen … so zeitig sie auch kommen. (S. 175/176)
Womit das letzte Wort gesagt und der … Sommer unwiederbringlich vorbei ist, Aber nicht für den schmalen, erschreckend mageren Jungen, der noch nich die Frau geworden ist, die einmal diese Geschichte wird erzählen können. (S. 183) Und in der wir Madame Nielsen selbst vermuten dürfen. Die sich dafür entschieden hat, ihr männliches Ich zu begraben und in eine andere Haut zu schlüpfen, weil sie sich als Frau schöner empfindet. Für die der endlose Somme noch nicht zu Ende ist – im Spannungsfeld und Wechselspiel zwischen Sprache und Musik, als den für sie charakteristischen Ausdrucksmöglichkeiten. Während der einst so schön gewachsene Junge unter drei Schäufelchen Erde in seinem Sarg auf dem Boden der Grube ruht, in der er begraben ist und seine Ruhe gefunden hat. (S . 190)
Madame Nielsen, Der endlose Sommer, Roman, 190 S. , 2018, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 18 €