Zwischen beiden Erfahrungen war immer eine teilweise tödliche Nähe nachvollziehbar. Zu der in Deutschland der seit 1871 gültige, 1935 durch die Nazis verschärfte § 175 beigetragen hat. Um nicht nur sexuelle Beziehungen von Männern unter Strafe zu stellen, sondern nach verbüßter Zuchthausstrafe für ihren Aufenthalt in KZs und Arbeitslagern zu sorgen. Was nicht jeder der zahlreich davon Betroffenen überlebt hat. Als Träger des rosa Winkels, als dem ihn stigmatisierenden Erkennungszeichen.
Welches Tunten in der 1971 gegründeten „Homosexuellen Aktion Westberlin“ dazu diente, an die Opfer zu erinnern und damit zur eigenen Sichtbarkeit beizutragen. Nach dem Motto: „Mach dein Schwulsein öffentlicht!“ Mit dem wir beim ersten Berliner CSD am 30. Juni 1979 ab zwölf Uhr mittags, an dessen Organisation ich beteiligt war, in Westberlin unterwegs waren. Nicht im Gleichschritt und unter roten Fahnen, sondern tanzend. Gemeinsam mit Frauen, die sich der Losung bedienten: „Lesben erhebt euch und die Welt überlebt euch!“ Aus Anlass des zehnten Jahrestages des Aufstands im Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street. Einem uns alle bewegenden Ereignis, dem in meinem Fall die Begegnung mit einem Freund vorausging, der im Rahmen unseres 1965 bei der Marine geleisteten Wehrdiensts vom Wachhabenden seiner Kompanie beim Sex mit einem Kameraden überrascht worden war. Um beide anschließend unehrenhaft aus der Marine zu entlassen. Verbunden mit der Anklage wegen Verstoßes gegen den § 175. Einer von beiden – mit dem Ergebnis einer erfolgreich beendeten Tanzausbildung und der Zusage zur Aufnahme in die Ballett-Kompanie seiner Heimatstadt in der Tasche – hat sich aufgrund der ihm und seiner Familie drohenden Scham und Schande dafür entschieden, sich mittels Kurzschlusshandlung mit einer Pistole seines Vaters auf dem elterlichen Dachboden für immer zu verabschieden.
Weshalb seine Mutter alle im Adressbuch ihrses Sohnes notieren Freunde – aus Trauer um ihn – zu seiner Beisetzung eingeladen hat. An einem klammfeuchten Herbstag an seinem Grab versammelt und uns einig in der Trauer um den Verlust unseres Freund und Kameraden und in der stillschweigenden Übereinstimmung, dass sowas nie wieder passieren darf. Damals als Auftakt zu einer Zeit des Aufbruchs und der großen Gefühle nachvollziehbar. Die Jahre später von der AIDS-Krise abgelöst werden sollten. Und von der Erfahrung des Abschieds zahlreicher Freunde und Weggefährten, die u. a. im Alten St. Matthäus Kirchhof in Schöneberg über einen Ort der Erinnerung an sie verfügen, als auf dem Schlachtfeld der Liebe und nicht des Hasses Gefallene.
Im Hinblick auf alle, in deren Fall wir davon ausgehen müssen, in ihnen die Opfer des sogenannten gesunden Volksempfindens zu erblicken. Vor dem Hintergrund einer Zeit, in der Homosexualität noch als Krankheit oder Verbrechen nachvollziehbar war. Wovon mancher betroffen war, der in Erinnerung seiner Freunde an ihn immer noch eine Rolle spielt. Genau wie jene, die in unserem kollektiven Gedächtnis aufbewahrt sind.
Wie beispielsweise der zu seiner Zeit blutjunge Isidor Ducasse alias Comte de Lautréamont, Verfasser der „Gesänge des Maldoror“. Der 1871im Alter von 24 Jahren von der Erfahrung einer tödlichen Krankheit betroffen war. Woraufhin 3000 Exemplare der Druckauflage seines Werks eingestampft worden waren. Glücklicherweise nicht alle. Weshalb eines davon 50 Jahre später einem Teilnehmr der surrealistiaschen Bewegung der 1920er Jahre in einem Pariser Antiquariat in die Hände fiel. Als dem Auftakt dazu, ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen einer Galionsfigur und Ikone von ihnen zu erfüllen. Während wir im Hinblick auf Arthur Rimbaud, einem damals 17 Jahre alten Zeitlgenosssen von ihm, davon ausgehen dürfen, dass seine Freundschaft und homosexuelle Verbindung mit dem Dichter Paul Verlaine im im Rahmen ihres Aufenthalts in London, als ihrem Exil, mit daran beteiligt war, sich viel zu rasch wieder voneinander verabschiedet zu haben.Weil Paul vorzog, sich mittels Rückkehr in den Schoß seiner Familie in Paris von seinem jüngeren Lover zu verabschieden. Der ihm darum das Leben zur Hölle machte. Weshalb sich Verlaine in Brüssel, auf dem Weg nach Paris, zum Pistolenattentat auf Arthur hat hinreißen lassen. Um mit einem kurzzeitigen Gefängnisaufenthalt dafür zu bezahlen. Weil Rimbaud den Anschlag überlebt hat. Der vermied, sich zur Rückkehr nach Paris zu entschließen, um sich stattdessen als Hauslehrer in Stuttgart zu verdingen und anschließend der niederländischen Kolonialarmee auf Java und Sumatra zu verpflichten. Um zuletzt in Aden gegenüber dem Horn von Afrika zu stranden und sein Leben künftig mithilfe des Waffenhandels zu bestreiten. Im Abschied von der Rolle und Funktion eines Klassikers der modernen französischen Poesie im Alter von zwanzig Jahren. Um bei seiner späteren Rückkehr nach Frankreich im Alter von 38 Jahren mit einer mit einer Beinamputation verbundenen tödlichen Krebserkrankung dafür zu bezahlen.
Im Fall seines Nachfahren Oscar Wilde, dürfen wir davon ausgehen, die Erfahrung der finanziellen Mittellosigkeit und den wirtschafrlichen Ruin eines bis dahin gefeierten Bühnenautors und Angehörigen der Londoner High Society dem zwei Jahre währenden Aufenthalt im Zuchthaus zu Reading zu verdanken, als Folge und Ergebnis der von ihm herausgeforderten Anklage wegen homosexueller Kontakte. In Paris, als seinem Exil, im Alter von 48 Jahren mittels Armenbegräbnis beigesetz, ehe es seinen Freunden gelungen ist, ihn in einigem zeitlichen Abstand dazu auf dem Pariser Friedhof Pére Lachaise unterzubringen. Im Fall des spanischen Bühnenautors und Dichters Fedeerico Garcia Lorca ist hingegen davon auszugehen, dass er vor dem Hintergund des sich am Horizont abzeichnenden spanischen Bürgerkriegs im Alter on 38 Jahren dem Mordanschlag einm Trupp faschistischer Milizen zum Opfer fiel. Mittels gezielter Schüsse in den After liquidiert, um damit an seiner homoerorotischen Orientierung anzuknüpfen und ihn aus dem Verkehr zu ziehen und anschließend in einem Massengrab zu verscharren.
Kenneth Halliwell war es 1967 vorbehalten, den 34 Jahre alten englischen Bühnenautor („Seid nett zu Mr. Sloan“) als seinen Lover aus Eifersucht mit einem Hammer zu erschlagen. Um sich selber daraufhin für immer vom Leben zu verabschieden. Was ihre Familien zum Anlass nahmen, ihre Asche anschließend im Golders Green Garden der Erinnerung zu verstreuen. Im Fall Johann Jakob Winkelmanns sowie Pier Paolo Pasolinis und von Guatav Grünfgens dürfen wir im Hinblick auf die für ihren gewaltsamen Tod Verantwortlichen jugendlichen Straftätern davon ausgehen, über eine sexuelle Affinität zu ihnen verfügt zu haben.
Im Unterschied zum Autor des Romans Mephisto, Klaus Mann, dank Todes von eigener Hand: 1949, im 43. Lebensjahr. Als Ergebnis zahlreicher Erfahrungen im Umgang mit seinen einander ablösenden Liebhabern und im Hinblick auf seine Drogenabhängigkeit. Dessen Vater Thomas und Bruder Golo einen missglückten Selbstmortdversuch von Klaus im kalifornischen Exil zum Anlass nahmen, keinen Zweifel daran zu lassen, dass es ihrer Auffassung nach (Zitat) „offenbar nichts gibt, was es nicht gibt“. Wobei es keiner besonderen Erwähnung bedarf, dass wir auch in ihrem Fall davon ausgehen dürfen, über einschlägige Erfahrungen zu verfügen. Was im Hinblick auf Klaus Mann nicht ausschießt, dass auch enttäuschte politische Erwartungen mit an seinem an sich selbst vollzogenen Suizid beteiligt waren. Bemerkenswert ist, dass sich von all seinen zahlreichen Angehörigen nur der jüngste Bruder Michael mit seinem Cello am Grab des Bruders in Cannes an der Cote d’Azur hat blicken lassen. Während Thomas und Katja Mann als Elternpaar nicht daran dachten, Klaus Tod von eigener Hand zum Anlass zu nehmen, sich zum Abbruch einer von ihnen in Schweder absolvierten Lesereise zu entschließen.
Nach allen prominenten Beispielen, in deren Fall von einer Affinität zwischen ihrem Tod und ihrer homosexuellen Orientierung auszugehen ist, möchte ich mich im Folgenden einem weithin unbekannten Autor widmen: Friedo Lampe, dessen Schicksal als nicht weniger beispielhaft nachvollziehbar ist.
Die letzten Jahre der Weimarer Republik waren nicht gerade ideal, um dem 1899 geborenen bremischen Kaufmannsspros ein unabhängiges Leben an deutschen Unversitätsstandorten zu ermöglichen. Glücklicherweise verfügte er aber über einen Bruder, der bereit war, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und dessen Handelsfirma zu übernehmen, um Friedo monatliche Einkünfte von ca. 350 Mark zu ermöglichen. Der aus Anlass eines Studienaufenthalt in Heidelberg in der Lage war, mit Friedrich Gundolf in Kontakt zu treten. Angehöriger des Kreis um den Dichter Stefan George. Bekannt dafür, über keinen eigenen Wohnsitz zu verfügen, sondern sich überall dort niederzuzlassen, wo er gefragt und seine Anhängerschaft bereit war, ihm ein Auskommen zu ermöglichen. Trotzdem hat Lampe nicht ihm, sondern einem Unbekannten seine Abschlussarbeit und Dissertation gewidmet. Ehe sein erster Roman „Am Rande der Nacht“ im Berliner Rowohlt Verlag erschien. Zu einem Zeitpunkt, als sein Studium hinter ihm lag und er darauf angewiesen war, andere Einkommensquellen zu erschließen. Zunächst als Volksbibliothekar in den Hamburger Bücherhallen. Um damit auf seine Weise der Misere von Millionen arbeitsloser Menschen jener Jahre zu begegnen.Vor dem Hintergrund einer die Welt in Atem haltenden Weltwirtschaftskrise, die den durch rechte Kreise in Deutschland unterstützten Aufstieg der Nazis und Hitlers 1933 vollzogene Kanzlerschaft und Machtergreifung begünstigte. Um auch im Fall Friedo Lampes nicht spurlos an ihm vorüberzugehen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines ersten Romans und der den damaligen Machthabern zu verdankenden Bücherverbrennung und Gleichschaltung des öffentlichen und kulturellen Lebens.
Die Aufgabe eines Volksbibliothekars bestand u. a. darin, die Schriften aller im Dritten Reich verfemten und verbotenen Autoren aus ihren Beständen zu entfernen. Einschließlich Lampes eigenem ersten Roman. Dank anrüchiger homoerotischer Tendenz dazu da, ihn – kaum erschienen – bereits wieder aus dem Verkehr zu ziehen. Weil in ihm vom Fall zweier Ringkämpfer die Rede war, von denen der Ältere stark von Gefühlen für den Jüngeren in Anspruch genommen war. Zitat: Führerlos umkreisten Hein Dieckmanns Augen Alvaros‘ Körper – die athletische und doch jünglingshaften Glieder, die braune Haut, die prallen, leise zuckenden Muskelschwellungen glitten von den breiten Schultern, der vorgewölbten behaarten Brua, bis zum Nabel, zur Hose“ hinab. (S. 95)
Der Klappentext des 1999 im Göttinger Wallstein-Verlag als Lizensusgabe des Rowohlt Verlag wiederaufgelegten Romans bescheinigt ihm die „Atmosphäre einer schweren Sommernacht und Ströme von Bildern und Szenen in vielerlei Gestalt – wie der Tag sie bringt“ – vor allem aber auch die Nacht. Und zwar mithilfe einer dem damals jungen Medium Film nachempfundenen Schreibweise. Was für Lampe mit einem nachhaltig spürbaren Anpassungsdruck verbunden war. Wovon auch andere, wesentlich bekanntere Autoren betroffen waren, wie Hans Fallada beispielsweise. Dem Friedo Lampe im Rahmen seiner Tätigkeit im Berliner Rowohlt Verlag als Lektor diente. Naiv genug, sich um die Unterstützung eines früheren Kommilitonen zu bemühen, der inzwischen in der Goebbels‘ Propagandaministerium unterstellten Reichsschriftumskammer untergebracht war. Der jedoch nicht bereit war, Friedo Lampe damit zu dienen.
Eine wesentliche Folge für dessen Verzicht, sich Autoren anzuschließen, die Deutschland damals den Rücken kehrten, bestand für ihn u. a. darin, keine Wahl zu haben, als sich an die Verhältnisse und Erfordernisse des Dritten Reichs anzupassen. Darauf angewiesen, zu vermeiden, Polizei und Justiz des NS-Systems eine Angriffsfläche zu bieten. Wie alle, die aufgrund ihrer Homosexualtität von Maßnahmen wegen Verstoßes gegen den § 175 betroffen waren. Erstaunlich war, nicht auch Lampe selbst zu betreffen, der gemeinsam mit einem Lebensgefährten und Partner in einer Dachgeschosswohnung im Charlottenburger Fürstenbrunner Weg untergebracht war. Als Mitarbeiter des Rowohlt Verlag, der seinerseits von staatlichen Maßnahmen betroffen war. Denen der Verlagsinhaber Ernst Rowohlt 1944 mit der Emigration nach Brasilien entsprach. Wovon nicht zuletzt sein Hausautor und Bestsellergarant Hans Fallada betroffen war. Darauf angewiesen, sich um einen, den damaligen Machthabern genehmen Verlagswechsel zu bemühen. Trotzdem sollte die von der Ufa beabsichtigte Verfilmung des von Friedo Lampe lektorierten Romans „Der eiserne Gustav“ an Goebbels Veto und Verdikt dagegen scheitern. Dem dieses Filmprojekt zum Opfer fiel. Woraufhin Lampe darauf angewiesen war, seinen Lebenaunterhalt künftig mit der Herausgabe von Landserausgaben deutscher Klassiker in hohen Auflagen zu verdienen. Denen die damals bereits knapp werdenden Papiervorräte vorbehalten waren. Von deren Mangel vor allem dem Regime nicht genehme Verlage betroffen waren.
Beispielsweise auch der Versuch Friedo Lampes zur Veröffentlichung eines weiteren, zweiten Romans „Septemnergewitter“ – der neben ihn erwartenden Zensurmaßnahme auch jenen den Nazis zu verdankenden Kriegswirren zum Opfer fiel. Genau wie die Absicht der Herausgabe eines Bandes mit Erzählungen. Weil die Leipziger Druckerei, die damit beauftragt war, einem Bombenan-griff Alliierter Luftkampfverbände zum Opfer fiel und abgebrannt war. Genau wie Lampes mit seinem Freund und Lover geteilte Berliner Dachgeschosswohnung, samt ihrer umfangreichen Bibliothek. Einer Freundin war es vorbehalten, ihn darum in ihrem Haus in Kleinmachnow außerhalb Berlins unterzubringen. Um während der letzten Kriegtage – aus gesundheitlichen Gründen vom Kriegsdienst freigestellt – zwischen seinem Domizil außerhalb Berlins und dem Wannsee zu pendeln. Als dem Sitz eines ihn beschäftigenden Spionageabwehrdiensts. Und zwar zu Fuß. Weil das öffentliche Verkehrswesen jener Tage von erheblichen Einschränkungen betroffen war. Friedo Lampe, zu Fuß unterwegs, nicht ersparend, wenige Tage vor der Kapitulation des Dritten Reichs, am 2. Mai 1945 einem Stoßtrupp der Roten Armee in die Hände zu fallen. Dem es oblag, mit seinem Anblick den Eindruck eines mutmaßlichen Nazi-Spions zu verbinden, um ihn im Alter von 45 Jahren standrechtliche zu erschießen.
Nach Untergang des Dritten Reichs und Siegs der Alliierten wurde der Rowohlt Verlag in Hamburg wieder begründet. Seitdem mehrfach, aber vergeblich darum bemüht – sowohl 1955 als zuletzt 1967 – mit der Wiederveröffentlichung des überschaubaren Lebenswerks Friedo Lampes dafür zu sorgen, diesen Autor im deutschen Literaturbetrieb zu etablieren. Mit mäßigem, kaum nennenswerten Erfolg. Mit Ausnahme des Autors Wolfgang Koeppen, der Lampe zwar kein umfangreiches aber wichtiges und vollendetes, nobles, unausgeschöpftes Oevre, voll von Lesefreude bescheinigt. Ein Lehrbuch für junge Scchriftsteller (das) zum Bleibenden der deutschen Literatur (zählt).
Trotz der 2020 von Johann-Günther König im Göttinger Wallstein-Verlag veröffentlichten Biografie Lampes ist davon auszugehen, es in ihm – genau wie im Fall Hans Henny Jahnns – mit einem weithin unbekannten Autor von Rang zu tun zu haben. Denen es nicht vergönnt war im literarischen Bewusstsein der Bundesrepublik Fuß zu fassen und Wurzeln zu schlagen. Dank scheiterns des Versuchs, Lampe als Autor zu etablieren. Als Ergebnis des Handycaps seiner homosexuellen Orientierung. In Erinnerung an eine Zeit, in der kaum vorstellbar war, die Öffentlichkeit für Autoren wie ihn zu interessieren. Jedenfalls nicht in einem nennenswerten Umfang. Woran sich trotz inzwischen zu verzeichnenden gesellschaftlichen Fortschritts solange nichts ändern wird, als wir es in der Bezeichnung schwul weiterhin mit dem wesentlichen Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen zu tun haben. Und queere Jugendliche nach wie vor immer noch von der höchsten Selbstmordrate betroffen sind. Und wir alle, als Queers, gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt, nicht nur statistisch über die geringste Lebenserwartung verfügen.
„Heimkehr“ lautet der Name eines dem Alten St. Matthäus Kirchhof, in der Hagelberger Str. 9 benachbarten Betattungsinstituts. Mit dem wir als Freundeskreis und Angehörige einer Grabgemeinschaft Kontakt aufnahmen. Um uns als Angehörige einer Grabpatenschaft über die Modalitäten einer künftigen Urnen-Bestattung zu informieren. Vor einigen Jahren sind wir aufgebrochen, jene Grabstätte auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof in Schöneberg zu übernehmen, die 1929 Josef Marcuse als Ort seiner Beisetzung diente. Angehöriger einer jüdischen Familie, mit Wohnsitz im Berliner Tiergartenviertel, und Offizier der kaiserlichen Armee während des ersten Weltkriegs. Nachdem er zu einer christlichen Glaubensgemeinschaft konvertiert war. Weshalb er, anders als andere Angehölrige seiner Familie nicht davon ausgehen durfte auf dem jüdischen Friedhof in Weisensee seine letzte Ruhestätte zu finden. Schneller darauf angewiesen, als er damals ahnte. Dank vom Zusammenbruch eines von ihm mitbegründeten Bankhauses beeinträchtigter Gesundheit. Mit der Folge der Notwendigkeit eines Aufenthalts in einem Wiener Sanatorium und anschließender Beisetzung in Berlin. Im Rückblik auf eine Zeit, in der er mit eigenem Pferdegespann und Lakaien nachmittags Unter den Linden unterwegs war. In einer gesellschaftlichen Phase des spürbaren Mangela an Bewusstsein für den rassistischen Aspekt des Einsatzes eines dem spichwörtlichen Sarottimohren der Schokoladewerbung nachempfundenen Begleiters. Jahre ehe es im Fall seiner geschiedenen Gattin, der Sängerin und Schauspielerin Belli Heermann Mitte der 1930er Jahre soweit war, sich für immer von Deutschland zu verabschieden und zum Exil in den USA zu entschließen. Um es als Inhaberin einer Modeboutique auf der Fifth Avenue in New York zu einiger Bekanntheit zu bringen. Während der jüngere Bruder ihres verstorbenen Gatten als Opfer des § 175 und Mitglied eines Strafbataillons der Wehrmacht anlässlich deren Russlandfeldzuges verheizt werden sollte. Hinterm Ural in einem Massengrab verscharrt.
Während wir als Gabgemeinschaft und Inhaber jener Begräbnisstätte und Untermieter dessen, mit dem wir uns in Verbindung damit konfrontiert erfahren, gerne noch eine geraume Weile darauf warten, unseren jeweiligen Namenssteinen – neben dem Namen und Geburtsdaten – auch noch das Sterbedatum hinzuzufügen. An einem Ort, der auch zahlreichen meiner Freunde und Gefährten, welche die AIDS-Krise der 1980er Jahre nicht überlebt haben, als solcher der Erinnerung an sie dient. Um auf ihre Weise zu einer inzwischen gewachsenen queeren Friedhofskultur beizutragen. Die Kosten für die künftige, uns erwartende Feuerbestattung und Beisetzung der jeweiligen Urnen mit unserer Asche, werden sich voraussichtlich – Stand heute – auf etwa 2500 Euro belaufen. Die mittels von uns einzurichtender Treuhandkontos aufzubringen sind. Zusätzlich zu den an die Friedhofsverwaltung abgeführten, mit der Übernahme unserer Grabpatenschaft verbundenen Restaurierungskosten. Sowie der Vorauszahlung für die zu erwartende Liegezeit, die in meinem Fall in etwa der gegenwärtigen Lebenszeit entspricht. Als die eines Alchemisten des Glücks, auf der Suche nach queeerer Selbstverwirklichung und Konfusion. Hinreichend damit vertraut, mich in entscheidenden Phasen meines Lebens neu zu erfinden.
Wie es mir seit dem 17. Juni des vergangenen Jahres wiederfahren ist. Dank nicht zu erwartender, mich spontan vereinnahmender Bekanntschaft mit demjenigen, der mir damals offenbarte, mich gerne kennenlernen zu wollen. Um mich seitdem zunehmend mit der Zeit in ihn verliebt zu haben. Als einen liebenwerten, humorbegabten Menschen, dem der Schalk zuweilen im Nacken sitzt. Vor siebzig Jahren in Friedrichshagen geboren und aufgewachsen. Um den überwiegenden Teil seines Lebens als Schauspieler an Bühnen der ehemaligen DDR zu verbringen. In Zittau, Dessau und andenorts. Nach wie vor von jenem dafür erforderlichen Temperament, Elan und der für ihn charakteristischen Neugier auf alles bestimmt, was ihm winkt und uns inzwischen verbindet. Weil es ihm gelungen ist, mich für sich einzunehmen. Um seit unserer Begegnung keinen Tag verstreichen zu lassen, ohne uns einen guten Morgen zu wünschen und, wenn es sich ergibt, den Schlaf von den Lidern zu küssen. Und uns abends in den zu erwartenden Schlaf zu verabschieden.
Nach einer Phase nicht abrupt, sondern schrittweise vollzogener Annäherung aneinander. Vor dem Hintergrund der ihn bestimmenden Erfahrung, seinen jahrelangen Partner, Lebensgefährten und Mann im Verlauf einer längeren zeitlichen Strecke auf seinem letzten Lebensabschnitt begleitet zu haben. Um sich an seinem jeweiligen Todestag an seinem Grab in Neuenhagen bei Berlin an ihn zu erinnern. Anhand ihres Fotos in der Lage, mir zu vergegenwärtigen, es in ihnen mit dem idealen, wie füreinander geschaffenen Paar zu tun zu haben.
Selber immer noch von der lebhaften Erinnerung an manchen bestimmt, durch den ich meinerseits damit konfrontiert war, sich aufgrund einer HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung viel zu rasch verabschiedet zu haben. Mit dem Ergebnis, die überwiegende Dauer der seitdem verbrachten Jahre in Erinnerung an sie verbracht zu haben, allein aber nicht einsam. Weil auch unabhängig davon einiges los war. Im Gefühl, nichts zu vermissen. Um mich in Verbindung damit eines besseren belehrt zu erfahren. Auf der Ebene der damit verbundenen Erfahrung der Übereinstimmung miteinander. Sowie Zuneigung, Sympathie und Verantwortung für einander. Als einem Fall von Liebe. Wie er so nicht zu erwarten und dennoch willkommen war.
In noch lebhafter Erinnerung an die dunklen Jahre der uns als Schwulen nachgesagten Promiskuitär und Beziehungsunfähigkeit. Um uns alle nicht erst aus Anlass des Gesetzes der Ehe für alle eines besseren belehrt zu erfahren. Vor dem Hintergrund der immer noch lebendigen Erinnerung an die Zeit des Aufbruchs und der großen Gefühle. Verbunden mit der Gewissheit, dass die queere Community inzwischen auf einem sehr viel breiteren Fundament steht, als in jener Phase, in der sich manches vorzugsweise um die Belange von Lesben und Schwulen drehte. Im mittlerweile gewachsenen Bewusstein, dass der Himmel groß genug für alle ist, die sich dafür anbieten, sich darin einbezogen zu erfahren, und sie nicht auszuschliessen.
Vorgetragen aus Anlass der Veranstaltung „Queere Stimmen in der Literatur“ am So. 9. April 2023 in der Forum Factory
So eine umfassende Beschreibung des Themas. Hatte eine tolle Zeit diesen Artikel zu lesen.
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