Alltag in Zeiten von Corona in der queeren Community Berlin

Mein Kalender ist leergefegt und verzeichnet keinen einzigen Termin, Was ein absolutes Novum ist. Und das ersmals seit Jahren. Alle Konzertdaten, Theateraufführungen, Kino-Events sind gecancelt. Beispielsweise die Hermann-Hesse-Verfilmung seiner Erzählung von 1930 „Narziss und Goldmund“. Die bereits wenige Tage nach ihrer Premiere, dank Kinoschließung wieder in der Versenkung verschwunden ist. Der Empfehlung eines Rezensenten folgend, habe ich mich stattdessen für die Lektüre des gleichnamigen Buches entschieden. Zur Auffrischung meiner ersten Bekanntschaft damit in den 1960er Jahren. Damals habe ich die Lektüre dieser verkappt schwulen Liebesgeschichte – noch vor meinem Coming-out – in einer Art Rauschzustand absolviert. Total vereinnahmt. Jetzt empfinde ich die im Mittelalter, in der Zeit der Pest angesiedelte Erzählung teilweise als beklemmend antiquiert, trotz nachvollziehbarer sprachlicher Vorzüge. Um mich damit vor allem auf den Inhalt zu beziehen. Beklemmend auch  der Eindruck, in welchem Ausmaße Krisen damals, vor der Zeit der Aufklärung, von dem Bedürfnis von Menschen bestimmt waren, die Vorstellung einer Strafe Gottes damit zu verbinden und die Verantwortung dafür gesellschaftlichen Minderheiten – beispielsweise solchen jüdischen Glaubens – anzulasten und in die Schuhe zu schieben, um diese massenhaft abzuschlachten.

Irgendwas in mir sträubt sich dagegen, das als historisches Ereignis abzuhaken. Das Dritte Reich liegt inzwischen genauso lange zurück, wie ich selber alt bin und die Ereignissse in Halle und andernorts sprechen ebenfalls für sich. Auch wir als Schwule geraten in solchen Krisenzeiten ins Fadenkreuz von Menschen, für die es sich darum handelt, jemanden dafür zur Veranwortung zu ziehen, wenn es mal nicht so rund läuft, wie jetzt in der Coronakrise – beispielsweise im Fall Evangelikaler Kräfte in den USA und andernorts.

Ansonsten sind meine Tage, genau wie die von uns allen, von der Erfahrung des zur Zeit dominierenden Kontaktverzichts und Ausgangsverbots bestimmt. Deshalb verbringe ich meine Zeitt überwiegend daheim, in Quarantäne, ganz ohne entsprechenden Befund, weil Tests zur Zeit Mangelware, also nicht so leicht durchzuführen sind. Das Ergebnis davon ist, dass sich  meine Kontakte mit anderen zur Zeit im Netz oder telefonisch abspielen. Mit Freunden oder Nachbarn im Lebensort Vielfalt beispielsweise. Meinem Nachbarn K. D. Spangenberg verdanke ich das mir mittels Messenger zugespielte Fundstück von Konrad & Paul, in dem sich die Beiden dafür entscheiden, daheim zu bleiben, um sich im Hinblick auf das Bedürfnis nach einem sexuellen Kontakt auf sich selbst zu beziehen. Als solchem innerhalb der eigenen vier Wände, also in trauter Zweisamkeit.

Einem Freund und BlOGGER, Rainer Hörmann Samstag ist ein guter Tag verdanke ich das Angebot, mich beim Lebensmitteleinkauf zu unterstützen und außerdem das Zitat eines Artikels in der Wochenzeitung Freitag vom 19.03.2020 des Autors Konstanin Nowotny („Die verzogene Republik“): „Die Erkenntnis, dass das soziale Zusammenleben in der Erwachsenenwelt das Stadium des Kindergartens kaum zu verlassen vermag, ist eine Tragödie des Älterwerdens“. Was mich ratlos macht und zum Grübeln veranlasst. Verbunden mit der Frage, was der Autor mir damit sagen will?

Der wunderbaren Mona Lisa von Allenstein verdanke ich ein von ihr auf Facebook gepostetes Selfie auf ihrem Sonnenbalkon, als Hinweis darauf, dass auch sie darum bemüht ist, die Krise gut hinter sich zu bringen. Wofür ich ihr alles Gute wünsche. Dankbar bin ich auch den beiden großartigen Inhabern des Buchladen Geistesblüten am Walter-Benjamin-Platz – dafür, sie in meiner Nachbarschaft zu wissen. Gut, dass es euch gibt. Und Glückwunsch zum kurzzeitigen Werbeauftritt im ZDF-Morgenmagazin vor ein paar Tagen. Dank eurer Lektüretipps bin ich jetzt in der Lage,  meinen Alltag abwechslungsreicher zu gestalten, im Fall von Buchtiteln, die ich ohne euren Hinweis darauf nicht zur Kennnis genommen haben würde.

Mein Dank gilt auch dem schwulen Buchliebhaber und Publizisten Paul Schulz, für seine Buch-, Film- und Serientipps im Netz. Von denen ich ebenfalls profitiere. Und den Prinzen und der Prinzessin von Eisenherz in der Schöneberger Motzstraße wünsche ich viel Erfolg im Überlebenskampf. Euer kostenfreier Buchversand zahlt sich hoffentlich aus. Vor dem Hintergrund, dass Amazon sich zur Zeit auf das Kerngeschäft der Belieferung mit Klopapier, statt Büchern konzentriert. Vor mir auf dem Tisch steht dieser gewaltige Brocken von Buch: Jens Biskys „Biographie einer großen Stadt: Berlin“. Im Umfang von knapp 1000 Seiten. Mit dem unterm Arm (nebst anderem Lesestoff) ich euren Laden neulich verlassen habe, als dies noch normal und in Berlins Straßen noch mehr los war und die U-Bahn noch im Fünf-Minuten-Takt unterwegs.

Auch den wunderbaren Menschen des SchwuZ drücke ich die Daumen, für ihre Crowd-funding-Aktion im Netz, zur Gewährleistung eures Überlebens im Neukölner Rollberg-Kiez. Meine Spende habt ihr bereits. Und ich würde mir wünschen, dass dies auch viele andere als Notwendigkeit erkennen. Zur Unterstützung einer Einrichtung, die in der queeren Community in Berlin seit 43 Jahren eine herausragende Rolle spielt, weshalb ich euch nicht missen will.

Beim letzten Wochenendeinkauf vergangenen Freitag hatte ich das Glück, bei DM noch die letzte Rolle Klopapier zu erwischen. Um zufälligerweise an der Kasse darauf zu stoßen, wo die Kassiererien sie aus dem Hamsterkauf eines anderen Kunden vor mir zurückbehalten hatte, um mir zugute zu kommen. Die Regale dort waren ebenso leer, wie die bei Rossmann 100 Meter weiter in der Wilmersdorfer Straße. Sehr putzig finde ich das Foto der Kanzlerin beim Einkauf im Supermarkt Ulrichs, ebenfalls mit einer Packung Toilettenpapier und drei Flaschen südländischen Roweins im Einkaufswagen. Seit einigen Tagen ist sie jetzt in Quarantäne und erledigt die Regierungsgeschäfte per Home Office, also online. Als Ergebnis einer Pneumokokken-Impfung durch einen mit Corona infizierten Arzt. Diese habe ich mir mit der üblichen Grippenschutzimpfung bereits vergangenen Herbs verpassen lassen. Trotzdem habe ich auf eine dem Kältesturz der vergangenen Tage und meinem Balkonaufenthalt zu verdankende Erkältung, also Husten und Schnupfen, hypochondrisch wie ich halt mal bin, mit dem Googeln der Coronasymptome reagiert. Während die Erkältung bereits wieder im Abklingen ist.

Jetzt gerade freue ich mich auf die vielversprechende Lektüre des umfangreichen, 600 Seiten starken Romans von Rebecca Makkai „Die Opimisten“ aus dem Eisele Verlag. Auf der Shortlist des Pulitzer Preis und National Book Award der USA. „Eine 30 Jahre umspannende, zuiefst bewegende Geschichte darüber, wie Liebe uns retten, aber ebenso auch vernichten kann, und wie uns traumatische Ereignisse ein Leben lang prägen, bis Heilung möglich wird“ (Klappentex). Ich bin gespannt darauf, weil ich die Zeit zwischen 1985 und 2015 zwar nicht, wie die Romanprotagonisten, in Paris und Chicago, aber in Berlin erlebt habe. Von welchem Virus in Verbindung damit die Rede ist, ist auch mir bewusst und  gegenwärtig.

Geschichte, sagt man, wiederholt sich nicht. Aber manchmal sieht es doch verdammt danach aus. Warum erstaunt es mich nicht, dass die schärfsten Einschränkungen der Bürgerrechte, wie jetzt in der Corona-Krise, von der bayerischen CSU ausgehen? Wie bereits vor Jahrenzehnten, im Fall des HI-Virus. Damals in Form von Gauweilers Forderung nach Internierung HIV-positiver Menschen in eigens für sie zu errichtenden stationären Quarantäne-Einrichtungen. Und mit ihren Ankerzentren ist sie auch die Anwort auf die Bewälttigung der „Migrationskrise“ schuldig geblieben, weil die keinen herausragenden Beitrag zur Flucht-Ursachenbekämpfung leisten. Alles was Europa seit Jahren dazu einfällt, erschöpft sich in Flickschusterei und im Herumdoktern an Symptomen. Die europäische Gespaltenheit in dieser Frage ist die Ursache dafür, dass Erdogan, Putin und Assad in der Lage sind, ihre Machtspiele zu spielen. Mit den USA unter Trump als Totalausfall. Weshalb Menschen weiterhin im Mittelmeer und Rio Grande ertrinken.

In der Corona-Krise fällt uns nichts Besseres ein, als uns voneinander zu isolieren. Vielleicht ist das im Moment der einzig gangbare Weg. Die Frage ist aber, ob wir es anschließend schaffen, wieder die Kurve zu kriegen. Weil ich Politiker vom Schlage Rita Süssmuths zur Zeit vermisse. Der es mit ihrem mutigen, couragierten Einsatz gelungen ist, der bayerischen Isolationspolitik in der AIDS-Krise einen Riegel vorzuschieben und die Grundlage zu entziehen. Im Verein mit von ihr damals unterstützten bundesweiten AIDS-Hilfen. Beispielsweise in Gestalt jenes für Safer Sex werbenden Fernsehspots. Mit der großartigen Hella von Sinnen als Supermarktkassiererin und dem schüchternen errötenden Ingolf Lück als Kunden an der Kasse. Dem ihr schriller Ruf in den Ohren gellte: „Rita, was kosten die Kondome?“ Gegen die Corona-Krise helfen leider keine Kondome.

Und gegen Populisten, wie die Machthaber in China, Russland oder in Singapur, die durchzuregieren verstehen, leider keine gesamteuropäische Beschwichtigungspolitik und Hinhaltetaktik. Menschen wie Donald Trump machen Angst, die davon überzeugt sind, in der Lage zu sein, ein nach einem Impfstoff forschendes Labore dafür zu gewinnen, sein Wissen für die USA zu reservieren. Glücklicherweise haben es die zuständigen Wissenschaftler und Forscher verstanden, zum Ausdruck zu bringen, dass von ihren Erkenntnissen alle Menschen profitieren sollen. Solange kein Impfstoff zur Verfügung steht, besteht der Eindruck einer Ruhe vor dem Sturm. Weshalb ich uns nur wünschen kann, nicht das Schicksal der Opfer des Corona-Virus in China und Italien zu teilen.

Auch in meinem persönlichen Umfeld, dem Lebensort Vielfalt, dem generationen- und geschlechterübergreifenden Wohnprojekt der Schwulenberatung Berlin herrscht zur Zeit Windstille. Der öffentliche Publikumsverkehr und Beratungsdienst ist auf ein Minimum notwendiger, aufrechtzuerhaltender Maßnahmen reduziert. Auch ich erfülle meinen ehrenamtlichen Bibliotheksdienst jetzt per Home Office, stehe also nur auf persönliche Nachfrage zur Verfügung, zur Vermeidung nicht notwendiger Kontakte. Und im Rahmen unserer Hausgemeinschaft besteht die Verabredung, uns mit Kontakten am Telefon auf dem Laufenden zu halten. Für die in der hauseigenen Pflege-Einrichtung untergebrachten Nachbarn besteht Besuchsverbot. Die Abwechslung für sie reduziert sich zur Zeit auf den kurzfristigen Aufenthalt im hauseigenen Garten.

Angebote zum Einkauf lehne ich zur Zeit ab, weil ich froh bin, über die Möglichkeit zu verfügen, dies selber zu erledigen, solange ich dazu in der Lage bin, um zu vermeiden, dass mir die Decke auf den Kopf fällt und mich der Lagerkoller packt. Natürlich genieße ich alle, wenn auch noch so sparsamen menschlichen Kontakte, wie dem mit meinem unmittelbaren Nachbarn mit Migrationshintergrund unterm Dach des LOV, der zur Zeit, vorübergehend, von dem Verlust seines Arbeitsplatzes betroffen ist, einem Betrieb des Friseurshandwerks. Sodass er jetzt auch auf dem Trockenen sitzt und seine Zeit mit der Grundreinigung seiner Wohnung und seines Balkons totschlägt und mit den üblichen Haushaltsgeschichten: Einkaufen, Kochen, Waschen, Putzen. Und unser Kontakt ist auch  auf die Begegnung von Balkon zu Balkon reduziert. Immerhin.

Und wenn  mir dank ausgiebiger Lektüre die Augen zufallen, also nichs anderes hilft, besteht immer noch die Möglichkeit, mich der heilsamen, therapeutischen Wirkung von Musik zu versichern, als Balsam für die Seele. Wie im Fall von Mozarts Klavierkonzerten oder denen Erik Saties. Oder in dem von Rio Reiser gemeinsam mit den Scherben kreierten Song „Wenn die Nacht am tiefsten“. Auch Tim Fischers der legendären Blandine Ebinger nachempfundene „Rinnsteinprinzessin“ versteht es, meine Wiederstandskräfe zu mobilisieren. Genau wie die großartige Tamara Danz mit ihren „Hurensöhnen“ (der Band Silly). Auch Klaus Hoffmanns Album aus den Siebziger Jahren, Westend („Sie nennen mich Tunte„) ist immer noch frisch und hat nichts an Wirkung eingebüßt. Ebensowenig wie Citys „Am Fenster“ – als nur einigen wenigen meiner Lieblingsmelodien und Interpreten.

Mein Geheimtipp als Hörbuch: Hans Henny Jahnn „Die Liebe ist ein grausamer Mann“. eine Produktion des Verlag Hoffmann und Campe von 2002. Mit den Stimmen von u. a. Barbara Nüsse und Christian Redl. Ein Querschnitt durch das literarische Schaffen eines großen schwulen Einzelgängers der deutschen Literatur. „Im Spiegel der Liebe“. Laufzeit 140 Minuten. Kann man aber auch in Etappen, also geschnitten genießen, nicht bloß am Stück.

Im Übrigen bemühe ich mich darum, meinen täglichen Speiseplan mit frischem Obst und Gemüse, und wenig Fleisch, zu gestalten, um die üblicherweise so beliebte und gehamsterte Konservenkost zu vermeiden. Der benachbarte Wochenmarkt auf dem Karl-August-Platz ist da sehr hilfreich. Solange er noch zur Verfügung steht. Außerdem hoffe ich darauf, dass die Virologen und Epidemiologen, die das Ruder übernommen haben, richtig damit liegen, im Hinblick auf die Prognose, bald  – ob in Wochen oder Monaten bleibt abzuwarten – wieder  Licht am Ende des Tunnels zu eblicken. Vor dem Hinergrund hoffentlich bald stagnierender oder rückläufiger Infektionszahlen. Wonach es zur Zeit  jedoch noch nicht aussieht.

Am meisten vermisse ich, wie wahrscheinlich wir alle, menschliche Kontakte, weil sie durch nichts ersetzbar sind. Das Netz, soziale Medien, Bücher, Musik, verfügen nur über eine begrenzte, davon ablenkende Funktion, obwohl sie den Eindruck vermitteln, mich voll auszufüllen. Trotzdem verlangt es mich nach Sonne, Luft und Licht, und das nicht nur auf meinem Balkon, sondern auch mal im Gang um den benachbarten Lietzenee. Was ja auch unter den gegenwärtigen Umständen möglicch sein soll. Wozu ich jetzt mit meiner ältesten Freundin seit 50 Jahren, hier um die Ecke in Charlotttenburg verabredet bin. Der Theaterkritikerin Renate Klett, die sich am Telefon darüber beklagt, dass zwei Theateraufführungen, über die sie schreiben sollte, jetzt nicht stattfinden werden und sie darum jede Menge Zeit für einen gemeinsamen Spaziergang hat. Unter Wahrung des notwendigen Abstands zu anderen einsamen Gestalten. In der Hoffnung, dass wir alle glimpflich und mit heiler Haut davonkommen. Was ich mir und uns allen von Herzen wünsche.

Ein Gedanke zu “Alltag in Zeiten von Corona in der queeren Community Berlin

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s