Lebensort Vielfalt Berlin Inside.

Leben, Liebe, Lachen, Jugend, Alter, Krankheit, Tanz und Tod. Männer, Frauen, alt und jung gemeinsam, Also das ganze volle Programm. Und das alles unter einem Dach. Beim Einzug vor sechs Jahren bin ich davon ausgegangen, noch eine geraume Weile in der Lage zu sein, das Zusammenleben mit meinen Nachbarn – als jüngere und ältere Lesben und Schwule, also Männer und Frauen – zu üben, die sich als so mutig entpuppten, sich auf ein solches Wagnis einzulassen. Zu dem auch transsexuelle Menschen eingeladen waren, die dann aber doch Abstand davon nahmen.

Der überraschende Tod unseres Nachbarn Gottfried, nach anderthalb Jahren, als dem  mit 85 ältesten Mitbewohner, hat dann leider nicht lange auf sich warten lassen. Wahr ist also,  dass solche Gesetzmäßigkeiten auch unterm Dach des LOV wirksam sind und nicht außer Kraft. Eins hat sich gleichfalls in unser Bewusstsein eingegraben, dass die Voraussetzung zu gelebter Nachbarschaft unter einem DAch, in der Bereitschaft besteht, sich darauf einzulassen. Was leider nicht alle beherzigen. Weil manche/r seit dem Einzug nichts davon wissen will. Und eine auf sich selbst bezogene, ihn isolierende Existenz vorzieht. Was die Frage aufwirft, weshalb er oder sie überhaupt eingezogen ist. Was  aber  nicht die Regel, sondern Ausnahme ist und nur eine Minderheit betrifft.

Klar ist auch, es im LOV mit keinem exterritorialen Gelände zu tun zu haben, und  in seinen Bewohner_innen mit einem Querschnitt unserer Gesellschaft. Unter queeren Vorzeichen. Oder: Lesben und Schwule und ihre Freundinnen und Freunde sind auch nur ganz gewöhnliche Menschen. Was im Grunde eine Binsenweisheit ist und darum keines weiteren Kommentars bedarf.

Eins ist jedoch sicher, worin wir uns von anderen Einrichtungen unterscheiden, dass sich im LOV niemand verstecken muss. Weder was die jeweilige sexuelle Orientierung betrifft, noch aufgrund krankheitsbedingter Erscheinungen. Die es im wesentlichen sind, die uns enger zusammenrücken lassen. Wenn beispielsweise der Eindruck besteht, dass die Einschläge näher kommen. Aber auch persönliche Interessen spielen im Umgang miteinander eine Rolle. Ebenso wie Sympathie und Antipathie, die uns entweder verbinden oder trennen können. Weil wir nicht aus der Welt gefallen sind, sondern das Produkt uns prägender Erfahrungen und Verhältnisse. Die auch ältere schwule Männer bestimmen. Vor allem dann, wenn sie unterm Damoklesschwert des berüchtigten § 175 aufgewachsen sind. Was besagt, dass nicht auszuschließen ist,  die damit verbundene Diskriminierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung unserer Lebensweise so stark verinnerlicht zu haben, dass dies auch im Alter noch spürbar ist und einer Rolle spielt.  Weil mit dem Erreichen der Altersgrenze und dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben nicht Schluss damit ist. Als von manchem verinnerlichte,  traumatisierende Erfahrung, die sich nicht einfach abschütteln lässt. Was sich auch auf die jeweilige Lebensqualität auswirkt. Gerade im Alter ist von Abstrichen daran auszugehen. Was auch im Fall sozialer Belange oder solche gesundheitlicher Natur eine Rolle spielt. Etwa im Fall von Einkünften auf Harz IV-Niveau.

Weil die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben –  an Konzerten, Opernbesuchen, Theateraufführungen, ebenso wie im Fall ganz gewöhnlicher Kinobesuche oder aber gemeinsamer Reisen –  finanzierbar sein muss.  Genau wie der tägliche Unterhalt und die monatlichen Mietkosten. Wenn das nicht der Fall sein sollte, kann das zu erheblichen  Abschottungstendenzen beitragen und zur  Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Lebens. Mit dem Ergebnis der Isolation und Vereinzelung. Was sich in manchen Fällen auch als besondere Form des Altersstarrsinn bemerkbar machen kann. Als einer sehr speziellen Spielart des Stolzes und Willens zur Abgrenzung von anderen. Armut ist zwar keine Schande aber zuweilen mit dem Gefühl der Peinlichkeit befrachtet. Im Beharren darauf, zu vermeiden, sich was davon anmerken zu lassen.

Dazu kommen altersbedingte körperliche oder gesundheitliche Abstriche. Beispielsweise abnehmendes Hör- und Sehvermögen, die ebenfalls isolierend wirken können. Wenn man sie ignoriert, sie also nicht zur Kenntnis nimmt, wie das auch zuweilen der Fall ist,. Was sich  auch  als Einschnitt in die jeweilige Lebensqualität auswirken kann. Dergleichen zu vermeiden entspricht der Kunst der Quadratur des Kreises. Weil die Voraussetzungen für ein lebenswertes Alter nicht vom Himmel fallen, sondern erarbeitet sein wollen. Durch aktive Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben. Eine Existenz unterhalb dieser Ebene ist zwar denkbar, aber nicht empfehlenswert. Alles, dem wir draußen begegnen, spielt auch unterm Dach des LOV eine Rolle. Schließlich ist es ja kein Geheimnis, dass das Alter kein Zuckerschlecken ist. Mit Abstrichen verbunden – an allem, was das Leben lebenswert macht. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Was im Fall unseres ältesten Mitbewohners Gottfried jedoch etwas anders aussah. Weniger  gravierend als in anderen Fällen. Dank stabiler sozialer Bezüge und daraus resultierender Lebensqualität. Vierzig Jahre Erfahrung im Bewegungschor und der Statisterie der Deutschen Oper in der Bismarckstraße haben sich in seinem Fall bezahlt gemacht. Auch im hohen Alter noch aktiv, zur Förderung der geistigen und körperlichen Beweglichkeit. Verbunden mit der tiefen Befriedigung, auch mit über Achtzig noch auf der Bühne stehen zu dürfen. Außerdem entsprach er dem Typus der im Bereich der DDR geborenen und aufgewachsenen und später in den Westen rübergemachten Tunte, die kein Blatt vorn Mund nimmt. Was zwar einerseits der seelischen Entlastung dient, aber auch Kritik einbringt. Beispielsweise von Frauen, die nicht damit einverstanden sind, sich in einem Interview mit der FAZ abträglich über sie  zu äußern. Unter Hinweis darauf, dass mit Frauen unter einem Dach, Zoff vorprogrammiert ist. Als Teil seiner Lebenserfahrung und das Salz in der Suppe. Entsprechend dem Hinweis darauf,  beim Sex jüngere Partner vorzuziehen. Woran sich für ihn auch im Alter nichts ändert. Auch wenn vielleicht reines Wunschdenken mit dabei im Spiel ist. Was aber auch zur Steigerung der Lebensqualität beitragen kann. Genau wie die regelmäßige, tägliche Frühstücksverabredung mit seinem um etliche Jahre jüngeren Nachbarn Horst. Der ihn eines Tages vermisst. Im Besitz eines Schlüssels zur Nachbarwohnung, Um  festzustellen, dass Gottfried am Abend zuvor auf seinem Sofa eingeschlafen und nicht wieder erwacht ist. Ein Tod, wie wir ihn uns alle mehr oder weniger wünschen.

Über Horst weiß ich selbst nach  Jahren immer noch nicht sehr viel mehr, als dass er mit Anfang zwanzig in seiner Heimat Westfalen nach West-Berlin aufgebrochen ist, als unser aller Sehnsuchtsort. Dank Teilnahme an den Feiern zweier runden Geburtstage von ihm weiß ich immerhin, dass er neben einem westfälischen Dickschädel auch über stabile verwandtschaftliche Bezüge verfügt. Einerseits beharrt er darauf, gerne alles selber, also unabhängig zu regeln. Andererseits ist er aber auch nicht abgeneigt, Unterstützung durch seine Familie zu akzeptieren. Insbesondere im Fall seines  halb so alten, schwulen Neffen und dessen Mann. Die beide für ihn ein absoluter Glücksfall  sind.

Für Gottfried ist ein starkes Mitteilungsbedürfnis charakteristisch. Und die Tendenz, bereitwillig Auskunft über sich zu geben. Was Dr. Marco Pulver, Chef des Netzwerks Anders Altern dankenswerterweise protokolliert und in Buchform herausgegeben hat. Trotz seiner überwiegenden Zurückhaltung ist auch Horst inzwischen nicht länger das unbeschriebene Blatt und Buch mit Sieben Siegeln, wie es vor einiger Zeit noch der Fall war. Über seine berufliche Vergangenheit weiß ich aber immer noch kaum was,  weil er nicht darüber spricht. Was er mit anderen seiner Nachbarn gemeinsam hat. Während von mir jeder weiß, dass ich 35 Jahre lang in der größten Buchhandlung Berlins, am Knie, beschäftigt war, und die Sache mit den Büchern immer noch nicht lassen kann. Weshalb ich mich seit meinem Einzug ehrenamtlich in der hauseigenen Bibliothek tummle. Weil Bücher mein Ding sind, und ich mich beim Einzug aus Platzgründen von großen Teilen meiner Bibliothek trennen musste, die jetzt im Schwulen Museum untergebracht ist. Schließlich bietet die hauseigene Bibliothek im LOV per Ausleihe passenden Lesestoff. Was mich nicht hindert, den Buchladen Eisenherz in der Schöneberger Motzstraße 24 nicht ohne das eine oder andere Buch unterm Arm zu verlassen. Wenn nötig, bietet sich die Bibliothek im Lebensort Vielfalt für die eine oder andere Spende an. Weil sie darauf angewiesen ist. Wozu ich gerne auch andere einladen möchte, die sich davon angesprochen fühlen dürfen.

Festzuhalten ist, dass Horsts westfälischer Neffe über den Vorzug verfügt, anders als sein schwuler Onkel nicht darauf angewiesen zu sein, sich  nach Berlin zu verziehen. Weil sich inzwischen auch die Provinz dafür anbietet, sich dort eine stabile berufliche und private Existenz aufzubauen. Zumal dann, wenn einer über den passenden Mann als Partner verfügt. Und im Fall des Neffen von Horst und dessen Mann dürfen wir davon ausgehen, sich gesucht und gefunden zu haben. Anlässlich einer Gemeinschaftsreise des Onkels nach Barcelona, hat es sich der Neffe nicht nehmen lassen, dort persönlich nach dem Rechten zu sehen und den Rücktransport seines Onkels nach Berlin zu organisieren. Der zwei Stunden vor dem Rückflug  der Reisegruppe nach Berlin-Schönefeld von heftigen Brustschmerzen heimgesucht wird. Als Ergebnis einem Treppensturz zu verdankender Rippenbrüche, die seine Unterbringung in einer Klinik in Barcelona erforderlich machen. Wie es überhaupt charakteristisch für ihn ist, krankheitsbedingte Ausfälle im Wappen zu tragen. Die jedoch inzwischen zunehmend durch demenzielle Ausfälle abgelöst werden, wie sie jetzt charakteristisch für ihn sind. Altersbedingt, und nicht in seiner HIV-Infektion begründet.

Gottfrieds Eindruck vom schwierigen und komplizierten Umgang mit Frauen, hat sich mindestens in der Anfangsphase, also nach unserem Einzug ins LOV, im Sommer 2012, bestätigt. Gipfelnd in ihrem Bedürfnis danach, sich des hauseigenen Gartens zur Abschottung gegen äußeren Einflüsse zu bedienen. Sogar von einer sie abschirmenden Hecke war die Rede. Nicht machbar, dank offenen Charakters des Projekts. Der bedingt, dass sein Garten allen Menschen offensteht. Nicht nur den Bewohnern, sondern auch Mitarbeitern der Schwulenberatung, sowie ihrn Klienten, in Gestalt zahlreicher täglicher Besucher_innen, denen gegenüber der Anspruch besteht, niemanden auszuschließen. Aber auch darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass es stimmt, dass Frauen und Männer unterschiedlich ticken und nicht zusammenpassen. Es sei denn, es passend zu machen. Sprich: uns zusammenzurauefen. Weil Frauen dazu tendieren, alles bis zur bitteren Neige ausdiskutieren zu wollen. Während der Mann an sich gerne mal alle Fünfe gerade sein lässt und darauf besteht, nicht nachtragend zu sein.

Ein anderer Knackpunkt im Umgang miteinander besteht auch in der gebetsmühlenartig wiederholten Klage unserer Mitbewohner_innen, als Frauen unsichtbar zu sein, also keine Rolle zu spielen. Und darum nur unter ferner liefen zu rangieren. Wahr ist, dass schwule Männer im Haus zahlenmäßig überwiegen. Im Umgang mit Frauen aber die Tendenz entwickelt haben, vieles zu akzeptieren. Wenn es sich bei Filmabenden beispielsweise darum handelt, dem Frauenfilm den Vorzug einzuräumen. Mit der Konsequenz, dass sich die Bereitschaft des Mannes zur Teilnahme daran in Grenzen hält.

Gabrielles Probleme mit der Unterbringung im Haus halten sich inzwischen in Grenzen. Obwohl sie sich gerne beklagt, als einzige Lesbe unter von ihr als „Heteraschnallen“ apostrophierten Frauen, keinen leichten Stand zu haben. Um das zu kompensieren ist sie darauf angewiesen, einmal wöchentliche den Frauenstammtisch des Lesbenprojekts RuT in Neukölln zu nutzen, um dort unter gleichgesinnten Frauen aufzublühen. Vor ihrem Einzug hat sie Wert darauf gelegt, nur unter  Voraussetzung einer eigenen Frauenetage einziehen zu wollen. Was, entsprechend dem Charakter des Hauses, nicht machbar war. Inzwischen hat sie sich an die Nachbarschaft mit Männern unter einem Dach gewöhnt. Und wenn sie Grund zur Klage hat, dann über chronische Schmerzen, die ihr täglich zu schaffen machen.

Nicht verhandelbar ist die Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung. Beispielsweise im Fall gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Wenn es sich darum handelt, für einen  Betroffenen einen Einkaufsdienst oder Besuchsdienst bei einem Krankenhausaufenthalt zu organisieren. Uns gegenseitig umeinander zu kümmern ist aber auch im LOV keine Selbstverständlichkeit und will immer neu erarbeitet sein. Als uns ein Leben lang  begleitende Aufgabe. Mit der wir immer wieder konfrontiert sind. Ohne Abstriche, auch nicht im Fall vielleicht nicht ganz so angenehmer Nachbarn, wie Nils einer war, dank lebensbedrohlicher Krankheit, unter der er litt und bedauerlicherweise inzwischen erlegen ist. Nachdem er nicht nur unsere Geduld  strapaziert, sondern mindestens ein halbes Dutzend Pflegedienste verschlissen hat. Einer der nicht nur seiner Umgebung das Leben schwer macht, sondern vor allem sich selbst. Ehe wir als Nachbarn veranlasst waren, ihn aus gesundheitlichen Gründen in der benachbarten Schlossparkklinik unterzubringen. Fast aufs Skelett abgemagert und nur ein Schatten seiner selbst. Weil er keinen an sich ranlassen wollte und selbst am meisten darunter zu leiden hatte. In seiner rollstuhlgerechten Wohnung unterm Dach des LOV.  Viel zu jung, um so früh bereits den Löffel abzugeben, wie es bei ihm leider der Fall war.

Im Unterschied zu ihm ist unser Nachbar Thomas, dank seiner ihm das Überleben gewährleistenden AIDS-Medikamente aus dem Schneider. Deren Nebenwirkungen ihm aber erheblich zu schaffen machen. Mit der Folge, zunehmend depressiver Schübe, die er geschickt zu verbergen versteht. Die aber ungeachtet dessen spürbar sind. Mit dem Ergebnis, sich schließlich selbst mittels Suizid aus dem Verkehr zu ziehen. In seinem Grab auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof verfügen wir über einen Ort der Erinnerung an ihn. Der auch mir und einigen meiner Freunden inzwischen dazu dient, uns um eine Grabpatenschaft zu bemühen, zur Gewährleistung unserer späteren Unterbringung dort. Aber in der Absicht, uns möglichst viel Zeit damit zu lassen.

Horst ist dem Tod gerade noch mal mit knapper Not von der Schippe gesprungen. Sein bedenklicher Zustand ist Robert vor Monaten schon aufgefallen. Als er ihm nachts auf der Treppe begegnet und dieser ihm erklärt, sich auf dem Weg zu seinem Mittagstisch in der benachbarten Leibniz Klause zu befinden. Die kurz vor Mitternacht jedoch bereits geschlossen ist. Mit Robert haben wir kurz nach unserem Einzug vor sechs Jahren gemeinsam im Wilden Oscar im Erdgeschoss seinen 33. Geburtstag gefeiert. Seitdem hat er als Mitarbeiter einer Yogakette Karriere gemacht und mit seinem Partner Marc ein Reiseunternehmen gegründet: „Abgefahren Reisen“. Weshalb beide häufig unterwegs sind. Vorzugsweise in Ostasien. Ihn prädestiniert aber nicht nur sein einmal im Jahr organisierter Grillabend im hauseigenen Garten für die Unterbringung im LOV. Weil er auch noch andere, nicht unerhebliche Vorzüge dafür mitbringt. Nämlich die notwendige Aufmerksamkeit und Empathie gegenüber älteren Mitbewohnern. Wie beispielsweise im Fall von Horst. Den er nachts auf der Treppe nicht sich selbst überlässt, sondern in seine Wohnung begleitet. Um sich, nachdem was er dort vorfindet, dafür zu entscheiden, einen weiteren Nachbarn zuzuziehen. In diesem Fall mich. Zu zweit fällt es uns  leichter, für Horsts Unterbringung in der Schlossparkklinik zu sorgen. Um sich dort einem Gesundheitscheck zu unterziehen. Ehe er sich selbst wieder entlässt. Die Aufgabe für uns als Nachbarn, besteht darin, Entscheidungen zu treffen, die sonst Familienangehörigen vorbehalten sind.

Mit Robert verbindet mich aber auch die gemeinsame Teilnahme an einer Klassikgruppe mit monatlichen Besuchen in der Philharmonie. In Gesellschaft überwiegend junger, sympathischer Menschen, die kein Problem mit mir haben, als dem mit Abstand Ältesten unter ihnen. Während es sich im monatlich in der hauseigenen Bibliothek stattfindenden Schwulen Literatur Salon um eine altersgemischte Gruppe handelt – von Literaturaffinen schwulen Männern, die sich gerne gemeinsam über ihre jeweiligen Leseerfahrungen austauschen. Was ich sehr spannend finde. Neben der entspannenden Gartenarbeit, die mir ebenfalls Spaß macht, oder dem abendlichen Glas Wein in der sommerlichen Laube, in Gesellschaft netter Nachbarn. Auch die hauseigene Bibliothek ist dreimal wöchentlich für jeweils zwei Stunden mein Revier. Gemeinsam mit Doris und Jürgen. Die ebenfalls über einen Bezug dazu verfügen.

Neben unseren Toten – wie Peter, der uns aufgrund einer tödlichen Tumorerkrankung verlassen hat – gibt es aber auch Nachbarn, die ihren Aufenthalt im LOV aus anderen Gründen aufgeben. Michael beispielsweise. Der sich mit seinem Lebenspartner im vergangenen Sommer in Werder an der Havel einen ganz neuen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt geschaffen hat. Als Restaurator alter, verschlissener Möbelstücke, deren Gebrauchswert er noch eine andere, sozusagen schwebende Note hinzufügt, um ihnen damit einen ganz besonderen Charakter zu verleihen.

Überhaupt sind  viele künstlerisch begabte und interessierte Menschen unterm Dach des LOV versammelt. Klaus Becker (Berlin) zum Beispiel, der seinen beruflichen Alltag über viele Jahre als Frauenarzt bestritten hat, und das als schwuler Mann. Und seitdem nicht nur Roland geheiratet hat, sondern jetzt mit von ihm entworfenen Objekten zunehmend Anerkennung findet. Während Paul jetzt neben seiner britische Staatsangehörigkeit auch  über eine deutsche verfügt. Als seiner Antwort auf den Brexit. Er besitzt als Fotograf den notwendigen Blick, der ihm erlaubt, fotografischen Aufnahmen den entscheidenden Unterschied hinzufügen, der sie aus der Masse üblicher Schnappschüsse heraushebt. Während sein Mann Klaus Dieter Spangenberg sich nach inzwischen einem halben Dutzend Veröffentlichungen – zuletzt über die Marcuses, eine jüdische Familie aus dem Tiergartenviertel Berlins in den 1920er Jahren – gegenwärtig um die Auffrischung der Erinnerung an den in Vergessenheit geratenen Maler Ernst Kelle bemüht.

Seit Michaels Auszug verfüge ich in Deybey aus Kolumbien über einen neuen, jungen, sympathischen Nachbarn, der seinen Lebensunterhalt in einem Friseursalon in der Uhlandstraße verdient. Und dem einen oder anderen seiner Nachbarn nach seinem Einzug dazu verhilft, sich schöner fühlen zu dürfen. Während der Versuch Gottfrieds Wohnungsnachfolger, als jüngsten Mitbewohner, im Alter von Mitte zwanzig Jahren, in das Wohnprojekt zu integrieren, fehlgeschlagen ist. Der sich jetzt für einen mehrjährigen Aufenthalt im Nahen Osten entscheidet. Die Frage ist, wird er seine Wohnung im LOV beibehalten können, um sie in seiner Abwesenheit unterzuvermieten. Wahrscheinlich nicht. Weil nicht vorstellbar ist, einen Fremden im Haus zu haben,  der sich nicht der Anforderung gelebter Nachbarschaft verbunden weiß.

Lothar, ebenfalls begeisterter Fotograf, und sein Mann Klaus Peter, Maler, dürfen im LOV ein besonderes Jubiläum feiern, auf das sie ihre Nachbarn nicht ohne Stolz aufmerksam machen: 30 Jahre HIV und 30 Jahre Lebenspartnerschaft. Wahrscheinlich haben auch sie inzwischen geheiratet, seit das möglich ist. Man blickt da ja kaum noch durch. Und unser nicht weniger sympathischer Nachbar Christian feiert nicht nur regelmäßig seinen Geburtstag mit uns, sondern hat sich gerade beruflich für die Sterbebegleitung qualifiziert und arbeitet in einem Hospiz am Wannsee. Mit ihm verbinden mich das Interesse an kulturellen Veranstaltungen, bei denen wir uns – er, sein Mann und ich – gelegentlich begegnen.

Mit einem Sonderfall haben wir es in unserem  Nachbarn aus der hauseigenen Pflege-WG  Peter Sibley zu tun. Vor mehr als 75 Jahren  in Wales geboren. Der sich gut im  Theaterleben Londons auskennt, ebenso wie im Showbiz, in dem er über viele Jahre zuhause ist. Sogar zum Tee bei Queen-Mum geladen, ehe sie sich für immer verabschiedet und es ihn nach Hamburg verschlagen hat. Wo er über viele Jahre als Übersetzer tätig ist. Der fließend mehrere Sprachen spricht. Den über Jahre seine Zimmertür schmückenden walisischen Drachen trägt er zwar immer noch im Wappen, aber nur im Verborgenen. Seit er krankheitsbedingt darauf angewiesen ist, sich um eine Pflegeunterkunft zu bemühen und die Pflegeeinrichtung des Lebensort Vielfalt als einzige infrage kommt. Und er tatsächlich das Glück hat, einzuziehen. Seitdem kämpf er sich kontinuierlich mit viel Energie aus dem schwarzen Loch seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung heraus. Auf den Rollstuhl ist er leider immer noch angewiesen und wird das auch weiter bleiben. Inzwischen hat er es aber geschafft, sein Zimmer in der Pflege-WG gegen eine kleine, zwar bescheidene, aber eigene Wohnung auf der gleichen Etage einzutauschen. Und trittt damit in die Fußstapfen von Rainer. Vormals Kostümnildner an der Staatsoper Berlin. Alle raten davon ab.  Dank Zweifeln daran, ob er das schafft. Pete bin ich durch zahlreiche Arztbesuche und Physiotherapietermine veerbunden, zu denen ich ihn begleite, und durch den wöchentlichen Besuch auf dem  Wochenmarkt auf dem Karl-August-Platz, Seit mehr als fünf Jahren. Außerdem haben wir am selben Tag Geburtstag. Er ist ein Überlebender. Ausgehend von allen vor fünf Jahren auf einem Foto der Bewohnern der Pflege-WG Versammelten, von denen sich alle inzwischen überwiegend für immer verabschiedet haben. Abgesehen von ihm.  Dem ich Kraft, Ausdauer und Energie wünsche, um sich noch möglichst lange zu behaupten und das Leben, trotz körperlicher Beeinträchtigungen zu meistern. Der Hunger darauf ist auf jedenfall spürbar. Er ist als einziger Rollstuhlfahrer im Haus regelmäßig in Berlins Community unterwegs. Sowohl im SchwuZ und der AHA, als auch in Juwelias Travestiertheater. Protagonistin von Rosa von Praunheims Streifen „Überleben in Neukölln“. Oder in beliebig anderen rollstuhlgerechten Bars, wie der „Besenkammer“. Der ältesten und kleinsten Schwulenbar der Welt – mindestens aber in Berlin. Nachdem viele frühere derartige Einrichtungen seit dem Fall der Mauer dicht gemacht haben, wie beispielsweise die legendäre Moccabar.

Bei Eröffnung des LOV vor sechs Jahren ist die Schwulenberatung davon ausgegangen,  über ein Leuchtturmprojekt mit Modellcharakter zu verfügen, dessen Ausstrahlung sich bewahrheitet hat. Weil es keine andere adäquate Unterbringungsmöglichkeiten als Alternative für Lesben und Schwule im Alter gibt. Dafür spricht auch die Liste aller, die gerne einziehen möchten, und die  jetzt vierhundert Namen umfasst. Inzwischen ist es mit Unterstützung des Senats gelungen queere Flüchtlinge und Asylbewerber in einer entsprechenden Einrichtung im Osten Berlins unterzubringen. Und ein schwuler Investor stellt ein Grundstück und Haus am Ostkreuz zur Verfügung, das zur Zeit auf seine Eröffnung als Lebensort Vielfalt in Friedrichshain wartet.

Ein trauriges Kapitel bietet sich dagegen mit dem ebenfalls – neben dem Wohnprojekt und dem Beratungsdienst der Schwulenberatung im Lebensort Vielfalt untergebrachten Wilden Oscar“ an. Der seit geraumer Weile bereits geschlossen ist. Aber auch wieder nicht. Seinen Charakter als Tagescafé hat er schon kurz nach Eröffnung des Hauses eingebüßt. Weil zu wenig Laufkundschaft dafür vorhanden ist. Auch hat sich das Konzept zu oft verändert, um potenziellen Gästen Gelegenheit zu lassen, sich daran zu gewöhnen. War Anfangs ein Sonntags-Mittagstisch im Angebot, konnte es Gästen passieren, vor verschlossener Tür zu stehen. Bei einem Frühstück ab 11 Uhr vormittags, stehen keine Brötchen zur Verfügung. Das Angebot leckerer Wiener Schnitzel ist bereits nach einem halben Dutzend Bestellungen erschöpft. Das Kuchenangebot ist teils lecker, oder hausbacken, zuweilen aber auch staubtrocken. Später sorgen lautstarke Proben dafür,  Gäste zu verprellen. Und der wöchentliche Bewohnerstammtisch muss einer ins Programm genommenen Abendveranstaltungen weichen. Zwar gibt es das Angebot eines mittäglichen Business-Lunch und eine Karte, die garantiert, dass die jeweils zehnte Mahlzeit kostenlos im Angebot ist.  Ehe ich sie nutzen kann, ist sie jedoch bereits wieder Geschichte und gehört der Vergangenheit an. Kurz und knapp: zuletzt lebt der Oscar nur noch von abendlichen Veranstaltungen. Eher  schlecht als recht. Und das auf höchstem technischen Niveau und mit entsprechendem Personal, in Gestalt von Pascal, der es drauf hat und sein Handwerk aus dem effeff beherrscht. Aber leider ohne die erhoffte wirtschaftliche Resonanz. Eine Subventionierung des Projekts ist zur Zeit nicht mehr möglich. Wer will, kann die Räume jedoch mieten. Für Geburtstage, Hochzeits- oder Weihnachtsfeiern. Dieser Zustand ist auch für uns als Bewohner ein trauriges Kapitel.  Anfangs ist es  zu laut und es dauert eine Weile bis  sich der Geräuschpegel eingependelt hat. Heute ist es fast soweit, ihn zu vermissen. Und  wir freuen uns, dass wenigstens Andrea und ihre Tangoschlampen mittwochs ab 16 Uhr nachmittags unermüdlich ihre Runden drehen und das Tanzbein schwingen. Bei schönen,  aber auch melancholischen Tangomelodien, die jetzt im Sommer bei offenem Fenster durch den angrenzenden Garten wehen.

Bedauerlich ist, dass sich im Fall des Auswahlverfahrens für ein Grundstück auf der sogenannten Schöneberger Linse am Südkreuz, das lesbische Projekt RuT und die Schwulenberatung Berlin in Konkurrenz zueinander befinden. Was den Vorgaben des Auswahlverfahrens zu verdanken ist. Mit  denen es den politisch Verantwortlichen gelungen ist, beide Projekte gegeneinander in Stellung zu bringen. Aber nicht nur Lesben und Schwule, sondern auch Menschen mit heterosexueller Orientierung sind dank demographischen gesellschaftlichen Wandels darauf angewiesen, sich im Hinblick auf ihre altersgerechten Unterbringung was einfallen zu lassen. Wenn sie nicht in der Lage sind, dies ihrer jeweiligen Herkunftsfamilie zu überlassen.

Was im Fall von überdurchschnittlich in Berlin vertretenen Singles kaum der Fall sein dürfte. Weshalb alle gesellschaftlichen Gruppen künftig verstärkt darauf angewiesen sein werden, sich um die Unterstützung durch die  Politik zu bemühen. Der es obliegt, den jeweiligen Rahmen dafür schaffen. Unter Verzicht darauf, unterschiedliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, wie es am Beispiel von RuT und der Schwulenberatung Berlin leider zur Zeit der Fall ist.

 

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