Niemals kennt man sich wohl ganz

Anlass: Buchvorstellung des von Oliver Sechting unter Mitarbeit von Karen-Susan Fessel verfassten Bands „Der Zahlendieb“. Ort: Buchladen Eisenherz Berlin. Am Abend des 13. Oktobers, an einem Freitag. Ein Beweis mehr dafür, dass der Aberglaube, dass an einem solchen Tag nichts klappt, nicht mehr greift und als überholt angesehen werden darf. Weil die überdurchschnittlich gut besuchte Veranstaltung als rundum gelungen anzusehen ist. Dafür möchte ich Oliver Sechting, als Autor, und Eisenherz als Veranstalter beglückwünschen. Sowohl für das Ereignis als solches, aber auch für den Mut zum Bekenntnis eines „Lebens mit Zwangsstörung“, mit dem der Autor an die Öffentlichkeit tritt. Und ich hoffe sehr, dass der Erfolg nicht auf sich warten lässt, der nicht ausschließlich materiell zu messen ist.

Weil der Autor jeden Tag damit konfrontiert ist, wie viel für ihn davon abhängt, ihm eine Struktur zu geben, die ihm erlaubt, zu vermeiden sich von besitzergreifenden, überwältigenden Ängsten vereinnahmt zu erfahren und sich von ihnen Kleinkriegen zu lassen. In denen sein Verhältnis zu Zahlen eine Rolle spielt, aber auch die ihn seit seiner Kindheit begleitende Notwendigkeit, den Kontakt mit bestimmten Pflasterfugen unter seinen Füßen zu vermeiden. Seine Buchveröffentlichung folgt im großen Ganzen der Vorlage eines vor vier Jahren bereits vorgestellten Films: „Wie ich lernte die Zahlen zu lieben“ – und geht doch um vieles weiter, um nicht nur das Thema als solches zu vermitteln, sondern auch Einblicke in die Persönlichkeit des Autors.

Seit ich Oliver, oder Olli, wie seine Freunde ihn nennen, erstmals vor fünf Jahren im Rahmen der Schwulenberatung Berlin, als seinem Arbeitsplatz begegnet bin, erfahre ich ihn als liebenswerten, sensiblen, einfühlsamen, offenen und zugewandten Menschen; neugierig und aufgeschlossen. Abgesehen vielleicht von seltenen Momenten, in den spürbar ist, dass es offenbar auch Phasen für ihn gibt, in denen er darauf angewiesen ist, sich seiner selbst zu vergewissern.  Wohl dem, der über einen Rückzugsort dafür verfügt, um Kraft aus ihm zu schöpfen. Wobei es sich nicht unbedingt um einen realen Ort handeln muss, aber die Fähigkeit, den Moment dafür zu nutzen, sich in sich selbst zu versenken, und Abstand zu gewinnen, von allem, was sich als Hindernis auftürmt.

In solchen, wie gesagt, äußerst seltenen Augenblicken, vermittelt der Autor den Eindruck, dass es genügt, in sich selbst einzutauchen, wenn auch nur für einen Moment des Innehaltens, um sich anschließend wieder seiner Umgebung zuzuwenden. Beispielsweise in einer Pause des von ihm gemeinsam mit seinem Kollegen Marco Pulver  moderierten Gesprächskreises „Anders Altern“ (einem Projekt der Schwulenberatung Berlin, das dem Ziel dient, Menschen, die aufgrund ihres Alters in der queeren Szene Berlins keine Rolle mehr spielen, ein Forum zum Austausch und der Selbstreflexion zu bieten).

In einem Rahmen also, in dem Oliver Sechting keine Schwierigkeiten  hat, das zu leisten, was von ihm erwartet wird, im Hinblick darauf,  Menschen um sich den Eindruck zu vermitteln, für ihn im Mittelpunkt zu stehen. Nicht aufgesetzt, oder als Attitüde, sondern in Echt, also offen und aufrichtig und nicht abweisend oder selbstbezogen. Trotz Notwendigkeit zu Augenblicken der Selbstgewissheit, die nicht der Notwendigkeit folgen, abzutauchen und sich gegen seine Umgebung abzuschotten, ihr also zu entziehen, sondern dazu dienen, sich aktiv einzubringen. Nachdem es ihm gelungen ist, sich auf sich selbst zu besinnen. Was ihm keineswegs zum Nachteil gereicht. Im Gegenteil. Weil dies das Gewicht seiner Persönlichkeit unterstreicht.

Ich bewundere sehr, dass es ihm gelingt, sich auf das zu konzentrieren, was andere von ihm erwarten, auch dann, wenn ihm das einigen Einsatz abverlangt. Und es ist eine gute Erfahrung, ihn in Momenten erleben zu dürfen, in denen er ganz bei sich selbst ist. Immer dann spürbar, wenn es ihm gelingt, mehr zu vermitteln, als den Eindruck, zu funktionieren, also seinen Job zu machen.

Daneben gib es aber auch die öffentliche Person Oliver Sechting, im Rahmen gemeinsamer Auftritte an der Seite seines Lebensgefährten und Partners Rosa von Praunheim. Mit dem zusammen er in den Medien in Erscheinung tritt. Auf dem berüchtigten roten Teppich – aus Anlass einer Filmpremiere oder der jährlichen Teddy-Preis-Verleihung. Da ist er als Filmemacher unterwegs und Teil von Praunheims Film-Crew („Die Jungs vom Bahnhof Zoo“) oder als Autor des eigenen Films,  als der er auf sympathische Weise ins Rampenlicht tritt.

Im Fall seines Films „Wie ich lernte die Zahlen zu lieben“, war ich  erstmals auf eine andere Seite von ihm aufmerksam geworden, die seiner Person eine neue Dimension verlieh. Dank gemeinsam mit Max Taubert als Freund und Co-Autor realisierten Films. Als dem Ergebnis eines gemeinsamen Aufenthalts in New York, Der Auftrag war, für Tom Tykwers Produktionsfirma einen Film über Künstler in New York drehen. Wobei es die Umstände erforderten, sich unmittelbar selbst in ihn einzubringen. In Form von Interviews oder Selbstdarstellungen.

Als unmittelbarer Folge von Olivers  „Zwangsstörung“. Die dem Freund und Filmpartner Max  abverlangte, Ollis Anblick auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Anlass zu nehmen, ein Blatt seines Notizbuch  mit der Zahl Sieben zu versehen, um diese dem Freund entgegenzuhalten, um ihm das Überqueren der Straße überhaupt erst zu ermöglichen. Weil Zahlen für ihn eine ganz besondere Rolle spielen, im Rahmen eines Systems guter und böser Zahlen, gegenüber denen Olivers Aufgabe darin besteht, schlechte Zahlen durch eine gute,  wie die Sieben zu neutralisieren. Als einer  offenbar existentiellen Notwendigkeit. Ebenso wichtig, wie das scheinbar kindliche Spiel des Vermeidens bestimmter Fugen im Pflaster, die zu berühren sich verbietet. Wie es an Kindern zuweilen auffällig ist, die besonders sensibel reagieren. Was Olli sich bewahrt hat, als Gegengewicht zur bedrohlich anmutenden Lebenswirklichkeit.

Immerhin ist es beiden, Max und ihm gelungen, ihre Freundschaft darüber zu vertiefen, was Max sicherlich einiges Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft abverlangt hat, sich darauf einzulassen. Zur Unterstützung des Freundes, nicht nur beim Überqueren der Straße, sondern auch im Hinblick darauf, ihm zu ermöglichen, sein Schiff, auf dem er unterwegs ist, sicher durch die Klippen zu führen, und  nicht daran zerschellen zu lassen.

So sehr ich in dem Autor den ernsten, zugewandten, offenen, neugierigen Menschen verkörpert erfahre, der er ist, so sehr bin ich auch überwältigt, von dem von ihm an den Tag gelegten Mut, dessen es bedarf, um sich damit ans Licht der Öffentlichkeit zu wagen. Und sie mit allen Facetten seiner Persönlichkeit bekannten zu machen. Wobei ihm auch der Schalk aus den Augen blitzt, als Ausweis dafür, dass Humor kein Fremdwort für ihn. Um jedoch nichts daran zu ändern, auch Anzeichen von Traurigkeit sichtbar zu machen. Was  ja kein Gegensatz ist, sich also nicht ausschließt, sondern vielleicht bedingt. Als die beiden Seiten einer Medaille der ihn betreffenden Lebensumstände. Mit der wir in seinem gemeinsam mit Karen-Susan Fessel realisierten Buch konfrontiert sind.

Auch in der Retrospektive, also im Rückgriff auf die Zeit der Kindheit, beispielsweise im Alter von 11 Jahren. Einer Phase, in der es ihm in Gesellschaft eines gleichaltrigen Kameraden zum ersten Mal gelungen ist, sich nicht schlagartig mit einem jähen Anflug des sich schrittweise herauskristallisierenden Bewusstsein der eigenen homosexuellen Orientierung konfrontiert zu erfahren. Was seiner Co-Autorin dazu dient, den Akt der  Selbstbefriedigung zum Anlass zu nehmen, mit dem Bild einer Kuckucksuhr zu ergänzen, die dabei in Erscheinung tritt  – zur Entlastung von der für den Knaben damit verbundenen Spannung. Als einem nicht der Wirklichkeit des Lebens, sondern dem Schatz der Phantasie entnommenen Accessoire. Und Gegengewicht zum drohenden Damoklesschwert des zu erwartenden Lebens zwischen den Stühlen, angesiedelt zwischen „Zwangsstörung“ und homosexuellen Bezügen. Als den beiden prägenden Einflüssen, die dem Autor abverlangen, die Balance zwischen ihnen zu wahren. Als einer nicht auf Anhieb zu verwirklichenden Notwendigkeit. Vor dem Hintergrund des Scheitern des Plans und der Absicht eines BWL-Studiums in Berlin. Weshalb er sich später zu einem solchen der Sozialpädagogik entschließt. Weil es ihm nicht nur materiell messbaren Gewinn verspricht.

Im Nachgespräch zur Buchvorstellung hat sich Prof. Rüdiger Lautmann darum bemüht, die für den Autor charakteristische „Zwangsstörung“ mit jener „magischen Welt“ der Naturvölker in Verbindung zu bringen, deren Leben noch nicht von zivilisatorischen Errungenschaften beeinträchtigt ist. Einem Zustand, mit dem wir jeden Tag zu tun haben. Weshalb einem Betroffenen der Rückgriff darauf, keine Entlastung davon verspricht. Ihm aber vielleicht als Erklärungsmuster dient. Zur Unterstützung, die dem Autor auch durch die bei seiner Buchvorstellung anwesende Psychologin Frau Hoffmann zuteil wird.

Vor allem aber und nicht zuletzt durch seinen Lebensgefährten. Der sich als  Künstler darauf bezieht, sich in seinem Leben erfolgreich darum bemüht zu haben, sein eigenes persönliches „Irresein“, mit seiner Kunst in Einklang zu bringen, also produktiv zu machen, um dessen „Schrecken“ damit zu kompensieren. Im Umgang mit der Störung seines jüngeren Partners handelt es sich auch darum, zu vermeiden, ihre Partnerschaft davon beeinträchtigt zu erfahren. Was ihn dazu herausfordert, im entscheidenden Momenten die entsprechende Unterstützung zu leisten. Während der Autor darauf pocht, dass sich sein eigenes Selbstverständnis nicht dafür anbietet, sich als Künstler zu definieren, weil die Arbeit am von ihm vorgelegten Buch auch über eine therapeutische Komponente verfügt. Wenn auch vielleicht nicht ausschließlich, im Ringen um den jeweils entsprechenden sprachlichen Ausdruck. Trotzdem sieht er seinen Platz dort, wo er im Berufsleben steht, das ihm abverlangt, zu „funktionieren“. Wenn auch nicht ausschließlich.  Im Dialog mit seinem Lebensgefährten war aber auch ein hohes Maß an gegenseitiger Empathie und Anziehungskraft nachvollziehbar, als Voraussetzung dafür, Krisen in den Griff zu kriegen, also zu vermeiden, an ihnen zu scheitern.

Die Schilderung der Notwendigkeit zur Sichtbarmachung dessen, was ihn als Mensch ausmacht, verhilft  mir u. a. auch  dazu, mich mit mir selbst zu konfrontieren. Im Hinblick auf die eigene, für mich charakteristische Obsessionen, beispielsweise im Hang zu exzessiven Lesen und Schreiben, wie es seit dem ersten Lesealter für mich bestimmend ist. Als Gegengewicht, zur nicht immer optimalen Lebenswirklichkeit. Während meine Kameraden auf dem Fußballrasen unterwegs waren, muss man sich mich am Rande davon mit einem Buch im Schoß vorstellen, was mir dazu diente, mich abzuschotten und unempfindlich zu machen – für Kritik an meiner Person. Was auch mit zwanghaften Zügen behaftet war. Durch keinen  darauf ansprechbar. Um sich auch auf die sich  entwickelnde homosexuelle Neigung zu übertragen. Mit dem Ziel,  nicht davon  abgeschnitten zu sein, als einer mich seitdem begleitenden, lebenslangen Aufgabe. Die auch noch im Alter über einen hohen Stellenwert verfügt, zur Wahrung und Aufrechterhaltung meiner über die Jahre hin angeeigneten Identität. Nach dem Motto: Das Alter ist nichts für Feiglinge.

Ausgehend von der Erfahrung eines Abends im Mai 1971, an dem ich im Rahmen des Kinos Arsenal in der Schöneberger Welserstraße mit einem Wendepunkt in meinem Leben konfrontiert war. In Gestalt von Rosa von Praunheims epochalem Film: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“, als der Voraussetzung dafür, mich damals in die im Kinofoyer ausliegende Liste derjenigen einzutragen, von denen ein halbes Jahr später die Initiative zur Selbstorganisation schwuler Interessen in West-Berlin ausging. Als Auftakt zum wachsenden Bewusstsein  der Notwendigkeit zur Sichtbarmachung unserer gemeinsamen queeren Lebensweise. Als einer mich seitdem begleitenden, nicht abreißenden Aufgabe.

Ich denke, dass auch im Fall Oliver Sechtings, als Mensch und Autor  davon auszugehen ist, dass ihn  beide wesentlichen Facetten seiner Existenz Zeit Lebens begleiten werden. Im Sinne einer ebenso existentiellen wie menschlichen Erfahrung, im Rahmen seiner nicht ausschließlich von seinem Krankheitsbild bestimmten Persönlichkeit, die noch über viele andere Aspekte verfügt, die sich dem Leser vielleicht nicht ihrem vollen Umfang nach erschließen. Weil ein letzter Bereich, als Geheimnis, selbstverständlich gewahrt bleiben muss, das, was einen im Kern seines Wesens ausmacht und das nur ihm selbst und den ihm unmittelbar Nächsten zugänglich ist.

Wer mehr über ihn und das Thema „Zwangsstörung“ erfahren will, dem rate ich dringend zur Lektüre des vorliegenden Bandes, den ich jedem ans Herz legen möchte, weil er darin nicht nur viel über dessen Autor erfährt und das was ihn bewegt und ausmacht, sondern vor allem auch über sich selbst.

Oliver Sechting mit Karen-Susan Fessel: „Der Zahlendieb. Mein Leben mit Zwangsstörungen.  2017, 190 S., Balance Verlag 16 €

 

 

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