Sieben Freunde haben sich im fortgeschrittenen Alter entschlossen, die Patenschaft für ein Familiengrab auf dem Alten St. Matthäus Friedhof in der Schöneberger Großgörschenstraße zu übernehmen. Jener Einrichtung in Berlin, auf der nicht nur die letzten Ruhestätten zahlreicher Prominenter, einschließlich der Gebrüder Grimm, zu besichtigen sind, sondern die auch über den Vorzug verfügt, neben einem eigenen Friedhofscafé unter schwuler Regie auch noch einen eigenen S-Bahn-Anschluss zu bieten zu haben.Die mit der Grabpatenschaft verbundene Absicht besteht für ihre Teilnehmer darin, über die Sicherheit einer eigenen späteren, in diesem Fall Urnenbestattung zu verfügen. Was auch für mich ausschlaggebend dafür war, mich den Sieben, denen ich mich in ihrer überwiegenden Zahl freundschaftlich verbunden weiß, anzuschließen, als der Letzte in ihrer Runde und das achte Mitglied von ihnen, unter denen der mit Ende Vierzig Jüngste über die Sicherheit verfügt, auch in vierzig Jahren noch ein Unterkommen zu finden, ohne dass die damit verbundenen Kosten an ihm hängen bleiben, weil alles bereits entsprechend im Voraus geregelt ist, im Rahmen eines eingetragenen Vereins, samt allem Drum und Dran.
In meinem Fall kommt hinzu, es in der Einrichtung des Alten St. Matthäus Kirchhofs mit dem Ort zu tun zu haben, der für mich mit der Erinnerung an zahlreiche Freunde und Weggefährten verbunden ist, die als Opfer ihrer HIV-Infektion dort beigesetzt sind und ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Und deren Abwesenheit mich immer noch darin bestimmt, sie zu vermissen. Wie beispielsweise im Fall des wunderbaren fotografischen Chronisten und Wegbegleiters der queeren Community in Berlin und ihrer Szene der 1980iger und 1990iger Jahre: Jürgen Baldiga. Dem ich erstmals auf dem von Andreas Pareik und mir u.a. gemeinsam organisierten ersten CSD in Berlin begegnet bin – am letzten Sonnabend im Juni 1979. Als der Grundlage einer späteren freundschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen eines 1982 in der Berliner Schwulenzeitung (BSZ) veröffentlichten Interviews mit ihm: Ich bin mein eigener Gott! (siehe auch: http://www.epubli.de/shop/buch/59006) Sowie im Rahmen der Herausgabe eines Bandes mit Gedichten, Fotos und Collagen, die 1982 unter dem Titel Breitseite in den von mir herausgegebenen Maldoror Flugschriften erschienen sind.
Unvergesslich die letzte Begegnung mit ihm Anfang der 1990iger Jahre, unmittelbar vor seinem Tod, mit der Gay City Sauna in der Keithstraße als Rahmen. Verbunden mit der Erinnerung an seinen herzzerreißenden Anblick, als nur noch Schatten seiner selbst, als ehedem junger und strahlender Erscheinung. Inzwischen ausgestattet mit allen Insignien seiner HIV-Infektion, samt Kaposisarkoms. Im Rückblick darauf würde ich mir heute wünschen, damals vermieden zu haben, es bloß bei der flüchtigen Umarmung und dem üblicherweise in einem solchen Fall angesagten Smalltalk bewenden zu lassen, sondern entschiedener auf die Atmosphäre um ihn reagiert zu haben. Als Antwort auf die spübare Berührungsangst derjenigen, die seinen Anblick damals zum Anlass nahmen, sich zum großen Bogen um ihn zu entschließen. Als Ergebnis seiner sichtbaren Magerkeit und Blässe und der an ihm nachvollziehbaren Isolation und Einsamkeit. Mir im Sinne eines nicht wieder gut zu machenden Versäumnis gegenwärtig, und als offene Wunde, die sich nie ganz schließen wird.
Auch im Fall meines unmittelbaren Nachbarn im Lebensort Vielfalt, Thomas Mertens, Produzent von Filmen wie „Nico/Icon“ und dem „Klaus Nomi Song“, zweieinhalb Jahre Tür an Tür mit ihm unterm Dach des LOV untergebracht, bin ich mit dem Gefühl hilflosen Bedauerns konfrontiert, mich vergeblich darum bemüht zu haben, ihn daran zu hindern, sich innerhalb der eigenen vier Wände, als seinem Schneckenhaus zu verkriechen. Als Ergebnis des mit seiner HIV-Infektion verbundenen Lebensüberdrusses und Ausdruck der für ihn charakteristischen Depression, als der Ursache und Wurzel der an ihm nachvollziehbaren Zukunftsangst und sich zunehmend verdüsternden Sicht von sich selbst und der Welt. Mit dem Ergebnis eines von ihm selbst vollzogenen Abschieds für immer. Auch in seinem Fall besteht die Möglichkeit, uns seines Grabes auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof als Ort der Erinnerung an ihn zu bedienen. Ruhe in Frieden.
Vor dem Hintergrund der für mich damit verbundenen Erfahrungen bedurfte es keines großen Schritts, um mich jener Grabpatenschaft anzuschließen und mich aktiv an ihr zu beteiligen und ebenfalls meinen finanziellen Beitrag zur Restaurierung der Grabstätte zu leisten, als der Voraussetzung zu ihrer Nutzung in den kommenden Jahren, um eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, wenn es soweit ist, dort ebenfalls meinen Platz zu finden und das Grab gemeinsam mit seinen anderen Paten zu teilen. Nicht gleich, aber irgendwann, in absehbarer Zeit. Solange es noch nicht soweit ist, darauf eingestellt, jeden Tag, der mir bleibt, zu genießen. Solange ich gesundheitlich, also körperlich und geistig, noch dazu in der Lage bin.
Der mit der Grabstätte verbundene Gedenkstein aus grauem Granit erinnert an einen Unbekannten, dessen Beisetzung 1927 erfolgte. Da sein Name mit dem unvollständigen Kürzel Ri versehen war, lag es für den einen oder anderen von uns nah, damit die Vorstellung zu verbinden, es in Joseph Richard Marcuse nicht nur mit einem Major der Wehrmacht, sondern Rittmeister zu tun zu haben. Ein weiterer Anlass zur Anregung unserer Fantasie bestand in seiner einsamen Beisetzung in einem Familiengrab. Erst nach der Restaurierung seines Grabmals war klar, es in ihm – als Major a.D. – mit einem Angehörigen der kaiserlichen Armee zu tun zu haben. Umfangreiche Recherchen unseres Freundes und Nachbarn im LOV Klaus Dieter Spangenberg, zu denen ihn Dr. Klaus Becker (Sprecher und Vereinsgründer unserer Grabpatenschaft anregte), förderten die erstaunliche Erkenntnis zutage, es in Joseph Richard Marcuse in der Tat mit einem im ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichneten Rittmeister der kaiserlichen Armee zu tun zu haben und einem offenbar gern gesehenen Gast am Hof von Wilhelm Zwo. Ehe es nach seiner Verabschiedung Anfang der 1920iger Jahre soweit war, sich an der Gründung eines Bankhauses zu beteiligen: Lewinsky, Retzlaff & Co. Um darüber nicht nur zum Bankier, sondern Lebemann im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens im Berliner Tiergartenviertel zu mutieren. Mit Isabel Heermann genannt Belli als Gattin an seiner Seite. Die sich in den 1920iger Jahren der Weimarer Republik in Berlin einen Namen machte, als Sängerin in Opernaufführungen von Kurt Weills „Der Protagonist“ und Ernst Kreneks „Johnny spielt auf“ und als Filmdarstellerin in Curt Götz‘ Filmstreifen „Der junge Schiller“, in dem sie eine der weiblichen Hauptrollen Franziska von Hohenheim verkörperte. Ihre Verbandelung mit der Film-, Künstler- und Musikszene im Berlin der sogenannten goldenen zwanziger Jahre sollte Sepp, von Eifersucht geplagt, in den Jahren ihrer Ehe schwer zu schaffen machen.
Mithilfe seiner umfangreichen Recherchen, online und in Archiven, ist es dem Buchautor Klaus Dieter Spangenberg gelungen, eine farbige und schillernde Biographie nachzuzeichnen, eingebettet in das jüdische Leben im Berliner Tiergartenviertel jener Zeit. Um in Verbindung damit auch deutlich zu machen, das Joseph Richard Marcuse als Angehöriger der kaiserlichen Armee während des 1. Weltkriegs darauf angewiesen war, vom jüdischen Glauben zum Christentum lutherischer Prägung zu konvertieren, um zu vermeiden, seine Karriere beeinträchtigt zu erfahren. Als Rittmeister hat er es genossen, sich nicht nur am kaiserlichen Hof zu zeigen, sondern auch in eigener Kutsche Unter den Linden, in Gesellschaft Bellis und eines dem sogenannten Sarottimohren der Schokoladewerbung nachempfundenen Begleiters, mit denen beiden er Aufsehen erregte. Als Bankier in der Lage, mit eigener Villa und Pferderemise in der Rauchstraße zu glänzen, unweit seines Elternhauses in der Hohenzollernstraße (der heutigen Hiroshimastaße) und mit Ausritten hoch zu Roß im Tiergarten.
Trotz wirtschaftlicher Erfolge im Finanzsektor sollte das Bankhaus Mitte der 1920iger Jahre an der damals herrschenden Textilkrise scheitern. Um mit seinem finanziellen Ruin auch zum wirtschaftlichen und gesundheitlichen Niedergang des Rittmeisters beitragen. Begleitet von Belli betreffenden Eifersuchtsszenen, um damit die Trennung und schließliche Scheidung von ihr vorzubereiten. Gipfelnd in einer tödlichen Krankheit Sepps, die auch mittels Aufenthalts in einem Wiener Sanatorium nicht zu kurieren war. Dank tödlichen Verlaufs den älteren Bruder Harry bestimmend, für Sepps Überführung nach Berlin und schließliche Beisetzung auf dem Schöneberger Alten St. Matthäus Friedhof zu sorgen, weil der Jüdische Friedhof in Weissensee aufgrund der Konversion des Rittmeisters nicht infrage kam. Demjenigen Ort, an dem Joseph Richard Marcuses Eltern Mitte der 1930iger Jahre beigesetzt werden sollten. Die dort inzwischen über ihre letzte Ruhestätte verfügen. Während die letzte Ruhestätte von Harry Marcuse, nebst Gattin Mimi auf dem Friedhof in der Heerstraße am Olympiastadion untergebracht ist.
Einem weiteren Ort in Berlin, der Barbara Reisner zu einem Besuch anregte, die eigens aufgrund von Klaus Spangenbergs Buchvorstellung in Berlin eingetroffen ist, und am Abend des 15. Juni als Ehrengast daran beteiligt war. Großnichte Joseph Richard Marcuses, deren Familie nach der Machtergreifung Hitlers in die USA emigrierte. Heute mit einem Kölner verheiratet und in Antwerpen lebend. Dem Internetkontakt mit ihr hat Klaus Spangenberg wesentliche Informationen zu verdanken, mit denen sie ihn versorgte, um ihm gleichzeitig mit entsprechenden Korrekturen des Manuskripts zu dienen. Wohl selber am meisten von seinem Vorhaben überrascht. Dem sie dank umfangreichen Familienarchivs diente. Ihr ist auch das Transkript eines Tonband-Interviews mit Belli Heermann zu verdanken. Die ebenfalls in den 1930iger Jahren ihren Wohnsitz nach New York verlegte, um es dort zu einem eigenen Modelabel und Laden an der Fifth Avenue zu bringen, ehe sie sich später, hochbetagt, im Alter von 103 Jahren, für immer verabschiedet hat.
Dem Hinweis Barbara Reisners auf Lotte Eisners Memoiren (Filmkritikerin und Gründerin der Pariser Kinemathek, dem weltweiten Mekka für Cineasten und gleichfalls Angehörige des Clans der Marcuses) verdankt der Autor nicht nur ihre Lektüre, sondern auch den Hinweis darauf und die Auskunft darüber, es im jüngsten Sproß der Familie und jüngeren Bruder unseres Protagonisten Franz (genannt Fränzchen) mit einem Sonderfall zu tun zu haben. Seiner Mutter durch seinen Status als Sorgenkind ans Herz gewachsen. Während andere ihn als das „Dummchen“ der Familie beschreiben. Fakt ist aber, dass seine doppelte Stigmatisierung, jüdisch und schwul, mit dafür verantwortlich zu machen ist, 1941 in einem KZ in Riga einen gewaltsamen Tod erlitten zu haben.
Mit der Mendelssohn-Remise in der Jägerstraße 51 am Gendarmenmarkt, Bestandteil des Gebäudekomplexes der Mendelssohn-Gesellschaft in Berlin, ist es Klaus Spangenberg gelungen, den idealen Rahmen für seine Buchvorstellung zu finden, an der u.a. auch Henry de Winter (bekannter Dandy und Protagonist der queeren Szene in Berlin, in diesem Fall ohne seinen Foxterrier, als ständigem Begleiter) als Gast beteiligt war. Der ideale Ort für die alle Teilnehmer tief berührende Spurensuche jüdischen Lebens im Berliner Tiergartenviertel der 1920iger Jahre. Abrupt unterbrochen durch Hitlers Aufstieg und Machtergreifung, als dem gewaltsamen Ende der goldenen zwanziger Jahre der Weimarer Republik, vor allem aber des jüdischen Lebens jener Zeit, mit verheerenden, in der Regel tödlichen Folgen für alle Betroffenen, denen es nicht gelungen ist, sich rechtzeitig davor in Sicherheit zu bringen. Wenn ihnen nicht, wie im Fall Joseph Richard Marcuses 1927 die Gnade eines frühe Todes im Alter von 53 Jahren beschieden war.
Klaus Dieter Spangenberg: „Der Rittmeister. Joseph Richard Marcuse (1875-1927) Eine Spurensuche.“ Berlin, 2017, 109 S. 19,50 € (Zu beziehen über den Buchhandel und online über Amazon)