Im Wilde Oscar ist es still. Alle Mitarbeiter der Schwulenberatung Berlin haben sich, in Erwartung des 1. Mai, ins verlängerte Wochenende verabschiedet. Nach einem Tag, für den ein hohes Aufgebot an Beratungsgesprächen mit Ratsuchenden Klienten charakteristisch war, die sich alle der Bibliothek des Hauses Lebensort Vielfalt als Aufenthalts und Warteraum bedienen.Mittags – zwischen zwei und vier – also parallel zum zeitgleich stattfindenden Café Wippe – ist das ehrenamtliche Bibliotheksteam damit beschäftigt, einige gespendete Bücher mit ihren ausgedruckten Signaturen zu versehen und sie anschließend zu foliieren, also mit einer schützenden, selbstklebenden Hülle zu versehen, um sie, zur anschließenden Ausleihe, in den Bibliotheksbestand einzusortieren – entsprechend, dem vorgegeben Suchsystem, das bislang an der Datenbank von Allegro orientiert war, inzwischen aber durch den hauseigenen, auf Honorarbasis arbeitenden Programmierer und Webmaster einen neuen Anstrich erhalten hat, als Voraussetzung dafür, ihn online zu stellen, also im Internet zugänglich zu machen, wie es inzwischen der Fall ist.
Wer will, kann sich unmittelbar selber einen Eindruck davon verschaffen, und sich davon überzeugen, im Bestand auch auf einen dem amerikanischen Autor Edmund White zu verdankenden Roman zu stoßen: Und das schöne Zimmer ist leer. Mittlerer Teil einer Trilogie – 1. Band: Selbstbildnis eines Jünglings, 3. Band Abschiedssymphonie – welche die schwule und lesbische Lebenswirklichkeit in den USA in der Vor-AIDS-Ära abbildet.
Was einem halben Dutzend Teilnehmern am abendlichen Schwulen Literarischen Salon als Gesprächsstoff und Spurensuche dient. Dessen Mitglieder sich ausdrücklich nicht als literarisches Damenkränzchen verstehen. Weil die Absicht vielmehr darin besteht, sich anhand der sie verbindenden Leseerfahrungen über zuweilen unterschiedliche Denkansätze und Herangehensweisen zu verständigen, und darüber, es im Fall des „schönen Zimmers“, das leer bleibt, nicht nur mit einer Metapher, sondern einer echten, also realen Erfahrung des Protagonisten zu tun zu haben, dessen Liebes-Verlangen sich nicht erfüllt. Weil das Öffnen der Tür genügt, um sich davon zu überzeugen, dass das Zimmer dahinter leer ist.
Weshalb es unserem Protagonisten vorbehalten ist, sich mit dem Verzicht auf die Erfüllung seiner Erwartungen abzufinden. Ehe es soweit ist, doch noch ans Ziel zu gelangen, darauf angewiesen, sich vor allem und zuerst seiner schwulen Identität zu versichern. In deren Abwesenheit er sich in davon ablenkenden, nicht abreißenden und süchtig machenden, promisken sexuellen Erfahrungen verausgabt. Wesentliche Aspekte der Versuchsanordnung seines Liebesverlangens, besteht darin, seine Erfüllung weitgehend zu vermissen. Ausgelaugt in enervierenden sexuell motivierten Eskapaden und (Klappen)Abenteuern, sowie daraus resultierenden Psychotherapieversuchen, in deren Rahmen alle, soweit davon betroffen, davon ausgehen dürfen, es in der Homo- sexualität zwar nicht länger mit einem Verbrechen, aber mit einer, sich zur „Heilung“ anbietenden Krankheit zu tun zu haben. Alle Versuche des Erzählers, dem zu entfliehen, entpuppen sich als Fehlschlag, weil sie zum Scheitern verurteilt sind. Weshalb er nicht ans Ziel gelangt. Jedenfalls nicht so rasch, dank spürbaren Mangels an Selbstakzeptanz. Nachvollziehbar als Ausdruck des ihn dominierenden, sprichwörtlichen schwulen Selbsthass.
Ihm abverlangend, im Hinblick auf seine leibliche Schwester mit neidvoller Bewunderung darauf zu blicken, dass es ihr gelungen ist, ihr Leben an gesellschaftlich verankerte Normen anzupassen. Dank Ehe und eigenem Nachwuchs, sowie dazugehörigem Gatten, dessen Nähe jedoch kaum noch zu ertragen ist. Als Ergebnis der Erfahrung, sich als Frau in eine Nachbarin verliebt zu haben, die ihre Aufmerksamkeit zwar genießt, ohne sie jedoch zu erwidern, also mit ihr zu teilen.
Whites Roman kreist um zahlreiche Handlungsstränge, in denen sowohl Humor als auch Selbstironie zu spüren sind, ebenso wie sprachliche Brillanz und eine starke und bildhafte Ausdruckskraft. Um uns als Leser mit allem zu versöhnen, was uns vielleicht nicht daran passt und uns die Lektüre schwer erträglich macht. Im Hinblick darauf, dass sich das Leben des Protagonisten – zur Bestätigung der Theorie promisker Beziehungs-unfähigkeit Schwuler – in nicht abreißenden, einander rasch ablösenden, überwiegend sexuell orientierten – zum Scheitern verurteilten – Beziehungsversuchen erschöpft. Gipfelnd in der Schilderung des abendlichen Aufenthalts in der Bar Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street. Und zwar ausgerechnet an jenem Abend, an dem ihre Besucher sich ihrer Trauer um Judy Garlands Verlust und Abschied für immer versichern. Was in seiner Wirkung auf sie, der eines sie aufrüttelnden Fanals entspricht, das sie veranlasst, den Aufstand gegen alle sie diskriminierende gesellschaftliche Ausgrenzung und Polizeiwillkür zu wagen. Was einige Anwesende – als Tunten, Schwule, Lesben – zum ganz entschiedenen Widerstand dagegen reizt. Eskalierend in der Bereitschaft, sich zum Sturm auf das Stonwall Inn eines Rammbock zu bedienen, um auch der lästigen Polizeiwillkür damit die Grundlage zu entziehen. Während sich andere, als gemäßigtere Angehörige der Community, um eine Schadensbegrenzung bemühen. In der Absicht, die wütenden Aktivisten davor zu bewahren, sich mit ihrem über die Stränge schlagenden Verhalten selbst zu schaden und damit der allen gemeinsamen Sache.
Am folgenden Morgen nicht davor zu bewahren, in der örtlichen Presse vergeblich nach Berichten über ihr Handeln und dessen Folgen zu fahnden. Weitgehend daraus ausgespart. Um sich nicht als Schockwelle zu entfalten, sondern erstmal im Sande zu versickern. Weil zum damaligen Zeitpunkt niemand in der Lage ist, sich auszumalen, über eine langfristig aufrüttelnde Wirkung zu verfügen. Wie es erst in einigem zeitlichen Abstand dazu der Fall ist. Als Auftakt zur daran anknüpfenden, weltweit wirkenden Aufbruchsstimmung. Und dem Beginn, der ab diesem Zeitpunkt nicht mehr aufzuhaltenden queeren Emanzipationsbewegung. Die ihren Aktivisten dazu dient, ihr Schicksal künftig nicht länger anderen zu überlassen, sondern selbst in die Hand zu nehmen.
Während es sich für den Autor im dritten Band seiner Trilogie darum handelt, mit dessen Titel unmittelbar an Joseph Haydens „Abschiedssymphonie“ anzuknüpfen, um unserem Protagonisten vor dem Hintergrund der 1980iger Jahre darauf einzustimmen, sich für immer von zahlreichen Freunden und Gefährten zu verabschieden, als den Opfern der um sich greifenden AIDS-Krise jener Jahre. Kulminierend in der nicht abreißenden Trauer um ihren zu beklagenden Verlust. Im Hinblick auf den es sich darum handelt, sich neben gefühlsbedingten auch verbaler Ausdrucksmöglichkeiten zu versichern.
Spätestens nach zweistündigem Austausch wirkt die in der Bibliothek versammelte Lese- und Gesprächsrunde unterschiedlichen Alters spürbar erschöpft. Aber auch zufrieden, es geschafft zu haben, sich über einen Romanstoff zu verständigen, der die älteren noch an fern in ihnen nachklingende eigene Erfahrungen erinnert, den Jüngeren dagegen inzwischen kaum mehr sagt, als die damit verbundenen Ereignisse unter der Rubrik historische Erfahrung abzuhaken.
Dem entspricht, dass der Autor der Romantrilogie, Edmund White, mit seinen mittler- weile 77 Jahren, weitgehend inzwischen in Vergessenheit geraten ist. Um so höher ist das Verdienst des Albino Verlages zu bewerten, ihn mit der Neuveröffentlichung seiner Werke dem Vergessen zu entreißen, um dem entgegenzuwirken. Es handelt sich in dem – vor Jahrzehnten von Gerhard Hoffmann gegründeten Verlag inzwischen um ein Imprint des (sich in einer wirtschaftlichen Schieflage befindlichen) Bruno Gmünder Verlages, der sich seinerseits darum verdient macht, sein massenwirksames Programm mit der Publikation anspruchsvoller Literatur abzurunden. Um den Teilnehmern an der Leserunde in der Queeren Bibliothek Andersrum u. a. zu ermöglichen, ihre Aufmerksamkeit auch zeitgenössischen Stoffen zu widmen, demnächst beispielsweise Daniel Schreibers im Münchener Hanser Verlag erschienen Bericht Zuhause (über seine schwule Kindheit und Jugend in Mecklenburg-Vorpommern) und dem Roman eines jungen arabischen Autors: Saalem Hadddads „Guapa“ (ebenfalls aus dem Albino Verlag).
Hier der Link zu Bestandsliste der Queeren Bibliothek Andersrum im Lebensort Vielfalt, einem Projekt der Schwulenberatung Berlin: