Bücher für mehr als eine Saison

James Purdy „Die Preisgabe“, Roman, 285 S., Berlin, 2015, Nachwort: Jonathan Franzen, in der Übers. von Kai Molvig

Eustace Chisholm, genannt  Ace, Protagonist des Romans ist eine gescheiterte Existenz. Weder als Ehemann Carlas erfolgreich, noch als Dichter, den die wirtschaftliche Not zwingt, seine literarischen Aufzeichnungen, mangels Papiers, auf Zeitungsseiten zu notieren. Nach Carlas Affäre mit einem Bäckergesellen keinen Zweifel daran lassend, nur wegen ihres finanziellen Beitrags zum gemeinsamen Haushalt geduldet zu sein. Sie weiß, dass Ace mehr als an ihr an dem jungen, blondgelockten Amos Ratcliffe, genannt Rat, interessiert ist. Der durch seine ins Auge springende Schönheit besticht. Carla den Eindruck vermittelnd, bei seinem Anblick zu erblinden. Weshalb sie ihn mit dem Bild der „Sonne im Zenit“ in Verbindung bringt. Als Kenner der griechischen Sprache versteht sich Amos u.a. darauf, Ace mit griechischer Lyrik bekannt zu machen.

Alle Protagonisten des Romans sind darauf angewiesen, sich mit dem Mangel an Resonanz auf ihre Sehnsucht nach Liebe abzufinden. Vor dem Hintergrund Chicagos am Michigansee, als der Elendskulisse der Armen und dem Tummelplatz der Mafia und Schauplatz ihrer Verbrechen. Und des amerikanischen Süden während des wirtschaftlichen Niedergangs und der Depression der Dreißiger Jahre.

Daniel Haws,  ein weiterer Protagonist des Romans, bleibt nicht erspart, sich als ehemaliger Grubenarbeiter ebenfalls auf der Straße der Verlierer wiederzufinden. Opfer gesellschaftlicher Intoleranz und des Mangels an schwuler Selbstakzeptanz. Keinen Zweifel daran lassend, sich im Amos verliebt zu haben, dem er sich jedoch nur als Schlafwandler zu nähern wagt. Weshalb Ace zum Ausdruck bring: „Tod und Verderben“ in beiden verkörpert zu erfahren.

Während er Clayton Harms, als seinen Untermieter, folgendermaßen charakterisiert: „… ein lieber Junge … der imstande ist, auf die Geranien zu pinkeln oder die Frühstückseier in der Kloschüssel zu servieren“. Dessen Bild, laut Autor, dem eines Riesen von Mann entspricht: „Mit schwerlidrigen haselnussbraunen Augen, apfelroten Wangen und (der hellen) Stimme eines Kindes … das im Bass lacht“.

Bei Amos dagegen konnten keiner „bei der ersten Begegnung … sicher sein, ob er schwul war oder nicht“. Clayton Harms ist im Hinblick auf ihn davon überzeugt, dass ihm keine lange Lebensdauer beschieden ist. Eine Information, die er aus Amos Hand bezieht: Ihre „Schicksalslinie hat einen Knick“.

Ehe sich diese Voraussage erfüllt, muss Amos noch andere Stadien durchlaufen. Vor dem Hintergrund seiner von Daniel Haws nicht unmittelbar erwiderten Liebe und der turbulenten Romanze mit dem schwerreichen Millionärserben Reuben Masterson. Der darauf reduziert ist, Amos mit seinem Reichtum zu überschütten.

Mit Maureen O’Dell, Malerin, verbindet Amos die Erfahrung eines komplizierten Abbruchs ihrer Schwangerschaft. Maureen: „Mein Körper wollte Daniels Baby nicht hergeben …“ Womit wir über einen Hinweis auf dessen Vaterschaft verfügen. Die damit verbundenen Bilder wird Amos nicht so rasch wieder los: „Maureen lag auf einem Küchentisch und sah aus wie ein Huhn, das vom Bratspieß gefallen ist. Eine schwarze Hand fuhr mit einer Suppenkelle in sie hinein und kratzte ihren Uterus leer“.  Die von Ace als „alte Tempelhure“ verspottete Maureen war auf dem Tiefpunkt angelangt. Älter wirkend, als sie es war, um sich dennoch, so Ace, „die mysteriöse Aura einer Sphinx“ zu bewahren.

Sie ist es, die auf Reubens und Amos Affäre eifersüchtig reagiert: „Hört auf rumzuknutschen .. und kümmert euch lieber um euer … Muschimäuschen“. Das Mischimäuschen dient aber bloß Reubens Groß/ Mama dazu, sich eine Verbindung mit ihrem Enkel zu wünschen. Weil ihr Amos als Schwiegersohn nicht passt, der nach der Trennung von Reuben bei Daniel Haws unterkriecht. Welcher in Amos Abwesenheit vor dessen Tür Wache hält. In der Hoffnung, dass „schon ein Seufzer genügt“, um sie „sperrangelweit zu öffnen“. Als Daniel die Schwelle überschreitet, drängt es ihn mit zitternder Hand, Amos Wandschrank zu öffnen. Wobei ihm ein Bündel Briefe in die Hände fällt. Briefe der Erinnerung. Denen der Leser u.a. die Bekanntschaft mit Amos Base Ida verdankt. Während die Aussichtslosigkeit der Passion für Amos Daniel aus dem Haus treibt. In Maureens Arme, die weiß, wie es um ihn aussieht und der es „beim finster blickenden Daniel die Rede verschlug …“

In Maureens Atelier den Entschluss fassend, in den Süden und zur Army zurückzukehren, aus der er vor Jahren desertierte. Ein Teil des Geldes, das Daniel Maureen überlässt, ist für Amos bestimmt. Sie weiß, dass Daniel ihn liebt. Weshalb sie ihn zum Geständnis zwingt: „Du weißt … ich liebe Amos“. Weshalb Maureen sich darüber beklagt, „in den letzten Monaten nichts anderes als schwule Liebestragödien“ zu hören bekommen zu haben.

Erst ein Brief Daniels aus dem Süden setzt Ace in Kenntnis, zur Army zurückgekehrt zu sein: „Heiland, er hat es getan!“ Daniels neue Adresse lautete fortan: Biloxi, Mississippi. Als dem Auftakt seiner Begegnung mit Captain Stadger, seinem Schicksalslenker. Den Daniel in einem Brief an Ace als „Fallensteller des Todes“ bezeichnet. Ahnend, dass jener ihm ans Leder will: „Soll er mich doch aufs Rad flechten …“

Daniels Brief nimmt Ace zum Anlass, keinen Zweifel daran zu lassen, dass Amos sich seinen Arsch inzwischen von Reuben Masterson vergolden lässt. Der unterm Verdacht steht, Daniels Verschwinden veranlasst zu haben. Weshalb Amos ihn danach fragt: „Sie haben – Daniel kein Geld gegeben, damit er verschwindet?“ Während es dem Angesprochenen nach Auskunft darüber verlangt, ob „eure Affäre … schon vorbei (war)?“ Amos: „Ich hatte nie eine Affäre mit ihm“.

Reuben fiel es schwer nachzuvollziehen, dass sich beider Miteinander in Daniels Schlafwandeln erschöpfte. Auf Daniel bezogen zum Ausdruck bringend: „Für mich“ war der „einfach nicht der Typ … zu kerlig“.

Amos ist klug genug, Reubens Frage danach, bei ihm zu bleiben, mit dem Hinweis darauf zu erwidern: „Ich werde solange bleiben, wie es dauert“. Womit das Ende seiner Affäre mit der „Millionärstunte“ vorprogrammiert ist. Deren Höhepunkt darin besteht, es miteinander vorm Sarg von Reubens Großmama zu treiben. Vom Bestattter überrascht. Woraufhin Reuben Amos und Sven, seinen schwedischen Gärtner, im Bett erwischt. Verbunden mit Reubens Aufforderung: „Raus mit euch beiden!“ Was Amos keiner zweimal sagen braucht: „Der wenig später (mit) seinem Koffer in der Hand auf der Landstraße nach Chicago stand“.

„Ist Amos hier?“ will Reuben wissen. Ace schüttelt jedoch den Kopf. Clayton Harms ist zu diesem Zeitpunkt bereits wieder ausgezogen. Weshalb Ace Reuben dessen Bett zur Übernachtung anbietet. Der von ihm wissen willen: „Sie finden es wohl für einen Mann meines Alters … albern … in einen Jungen (verliebt) zu sein?“  Ace: „Da haben Sie vollkommen recht!“ Keinen Hehl daraus machend, von Daniel aus Biloxi wöchentlich ein bis drei Brief zu erhalten. „In Reubens Stimme schwang … viel Hoffnungslosigkeit (mit)…  weshalb Ace den Kopf hob“, um ihm schwachen Trost zu spenden: „Betrachten Sie es doch (so) … es geht vorbei und dann sind sie wieder ein freier Mensch“.

Unter Bezugnahme auf Amos‘ Base Ida erfahren wir beiläufig, es in ihr in Wahrheit mit seiner Mutter zu tun zu haben, mit der ihn unaussprechliche inzestuöse Geheimnisse verbinden. Die Begegnung mit seinem alten Herrn nimmt der Autor dagegen zum Anlass, diesen folgendermaßen anschaulich zu machen: „1,93 m groß, mager und (selbst) als Kettensträfling unfähig … sich auf ehrliche Weise sein Brot zu verdienen“. Er bittet Amos Mutter, den Jungen auf eine Spritztour mitnehmen zu dürfen. Um den Sohn dafür zu kritisieren, seine Schokolade wie ein Mädchen zu schlürfen. Der flippt darüber aus und fordert seinen Vater auf: „Häng dir deine Pariser doch zum Trocknen auf die Leine“. Worauf Amos die 15 Kilometer seines Heimwegs anschließend zu Fuß hinter sich bringt. Daran erinnert, Base Idas Bett geteilt zu haben. „Die schreckliche Erkenntnis schlug bei ihr ein wie ein Blitz … Um des Allmächtigen Willen, doch nicht mit der eigenen Mutter!“

Daniel Haws Briefe aus Biloxi, Mississippi, erreichen Ace Chisholm in Chicago inzwischen täglich. Ihre Botschaft ist u.a. für Amos bestimmt. Auf dessen Frage hin: „Ist der Brief da von … Sie wissen schon, wem?“ Ace nickt.“Fragt Daniel jemals nach mir?“, will Amos wissen.“ Ace: „Ja, hin und wider …“ „Und erzählen Sie ihm … was von mir?“ Ace: „Jedenfalls habe ich ihm von dem Skandal der Beerdigung der alten Mrs. Masterson (erzählt)“.

Ace unterstellt Amos, wütend zu sein, dass Daniel nicht mit ihm ins Bett stieg. Gegenstand von Daniels Briefen an Ace ist inzwischen dessen Captain in der Army, Stadger : „Er lauert darauf, mich bei … Verbotenem zu erwischen … Alle haben sie mich schikaniert. Aber (in ihm habe ich) den Kaiser aller Quälgeister gefunden“.

„Die Army“, so Ace, „wird ihm keine Mutter sein, sondern ein düsterer Bräutigam“. Weshalb Daniel sich unter Aufsicht Captain Stadgers  „… im Dunstkreis des Todes (befindet)“.

Daniel Haws war für Ace „… ein hoffnungsloser Fall“. „Der junge Ace Ratcliffe hatte ihn fasziniert, doch von Daniel war er überwältigt“. Der Ace offenbart: „Ich wurde geboren, um Amos Ratcliffe zu lieben, ohne je scharf auf Jungs gewesen zu sein“. Darin besteht Daniels eigentliches Dilemma. Weil er nicht über das Selbstverständnis eines Schwulen verfügt.

Während sich des Captain auf ihn bezogenes sexuelles Begehren auf der Ebene des Verlangens danach abspielt, sich Daniel untertan zu machen. Weil ihm daran gelegen ist, Macht über ihn auszuüben. Von seinem Peiniger auf Amos angesprochen, der in Briefen an Daniel eine Rolle spielt, zwingt er diesen zum Bekenntnis: „Ich liebe Amos Ratcliffe“. Woraufhin der Captain verlangt, sich ihm „gänzlich in die Hand zu geben“. Daniel daran erinnernd: „… sich bereits in der ersten Nacht … im Camp … nackt vor dem Feldbett seines Captains (aufgepflanzt zu haben) … Sie wollen sich doch nicht etwa damit entschuldigen, dass sie Schlafwandeln?“ Daniel gibt jedoch vor, sich nicht daran zu erinnern. Und beteuert, Amos nicht körperlich geliebt zu haben: „So habe ich ihn nie geliebt“.

„Wie (sonst) hast du die schwule Sau geliebt?“, will der Captain wissen. Daniel entgeht der „Ausdruck flammender Wut und Raserei auf (dessen) Gesicht …“ In einem Brief an Daniel verkündet Ace Chisholm, dass „Amos … nie besser aussah … es ist, als habe er in Erdbeermilch gebadet … Nun, da er Reuben los ist, kann er seine Liebhaber kaum zählen“. Daniel zerreißt den Brief. Captain Stadger, der ihn dabei erwischt, verlangt von ihm : „… alle Briefe (für ihn) aufzuheben …“

Ace Chisholms „zweites Gesicht“ besteht inzwischen darin, den Inhalt der Briefe Daniels an ihn bereits zu ahnen, ehe sie ihn erreicht haben. Weshalb er die „Tragödie in (der) tropischen Szenerie des Südens voraussieht … Den Duft der Azaleen und Magnolien … Palmen und Steineichen (riechend)“. Ace ist darüber bestürzt, dass aus ihm „ein gottverdammter Negerspiritist geworden ist“. Und er drückt Amos „… einen Kuss in jede Handfläche“ und verlangt von ihm; „Mit’m Arsch vom heißen Ofen runterzukommen … Das war das letzte Mal, dass Ace Amos Ratcliffe lebend sah …“ In einem Brief an Daniel, den der Captain abfängt, bekennt Amos: „Du warst der Einzige, den ich je geliebt habe“.

Captain Stadger sorgt dafür, dass Daniel „ausschließlich (ihm) persönlich unterstellt wird … Und konnte seinen Hass kaum noch zügeln … “  Von Daniel verlangend, ihm „… sofort zu sagen, dass (Amos) ein mieser kleiner Arschficker ist und dass Du ihn nie geliebt hast“. Unter einem „Hagel von Faustschlägen“ ist Daniel glücklich, dass er gehorchen konnte „… und begann seine Hose aufzuknöpfen … als sei ihm endlich die Strafe beschieden, der er gewachsen war … Sein Körper bot (anschließend) ein seltsames Muster von Schmarren, Rissen und blutunterlaufenen Beulen …“ Während Ace‘ an Daniel adressierter Brief Auskunft darüber gibt, dass Amos in Chicago  “ … beim Verlassen eines Hauses von einem Polizisten erschossen wurde, der ihn für einen Einbrecher hielt …“

Beide, der Captain und Daniel „… lagen ruhig, gesammelt und gänzlich nackt nebeneinander auf dem Moos, umsäumt von nächtlich blühenden Mondwinden …“ Doch fesselte ihn Stadger  „… mit einem Kabel rasch an einen Baum …“ und „… der Stahl des Captains trifft (Daniel) wie eine Stichflamme in den Unterleib … “

Corporal Paulding von der Army in Biloxi, Mississippi, gibt später zu Protokoll, dass er einen Mann aus dem Dickicht kommen sah “ … der seine Eingeweide vor sich hertrug, wie auf einem Tablett … “ Captain Stadger hat sich anschließend in einem Versteck eine Kugel in den Kopf geschossen und über Ace Chisholm erfahren wir im Epilog des Romans, dass sein auf Zeitungsseiten notiertes Manuskript den Flammen zum Opfer fiel und er daraufhin nie wieder eine einzige Zeile schrieb.

Die Drastik der Romanhandlung korrespondiert sprachlich unmittelbar mit der Schönheit seiner Naturschilderungen. Obwohl sich der Autor sträubte, ihn in eine Schublade zu stecken, ist ihm genau das widerfahren. Abgesehen von zahlreichen bedeutenden Autoren findet er seine Leser fasst nur unter Schwulen.

James Purdys Roman „Die Preisgabe“ ist ein Spiegelbild der Stimmung des amerikanischen Mittelwesten und Süden der dreißiger Jahre. Vor dem Hintergrund überschäumender Gewalt, unterdrückter Sexualität, Leidenschaft und Rassenhass. Eingebettet in das beklemmende Klima Chicagos und die Schönheit der Landschaft des Südens, die alle dramatischen Ereignisse um so plastischer ans Licht bringt und nachvollziehbar macht.

 

 

 

 

 

 

 

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