Ankunft Bahnhof Zoo. Liebeserklärung an eine nicht ausschließlich buchhändlerische Institution des alten Westberlin

Bei meinem Ende der 1960iger Jahre vollzogenen Wechsel nach Berlin, war ich im Frühherbst in der Bahn dorthin unterwegs. Mit einem Roman im Gepäck, als Reiselektüre und Ablenkung von der am Fenster meines Abteils vorüberziehenden Landschaft.

Kein Angehöriger meiner Familie ahnte damals, welche Erwartungen damit verbunden waren. Außer dem Inhaber eines Buchladens in einer Ladenpassage der Mannheimer Einkaufsmeile Planken; mit Ausgang zur ihr benachbarten Fressgasse. Er war es, der mich nach Berlin verabschiedet hat. Und zwar mit Hubert Fichtes damals erschienen Roman „Die Palette“ als Abschiedsgeschenk von ihm, der meine Entwicklung in den für mich prägenden Jahren begleitet hat. Mit einem Blick dafür, woran er an mir war. Weil er ahnte, mit wem er es zu tun hatte. Dafür bin ich ihm immer noch dankbar. Weil er es war, der meinen Hunger auf die Werke zahlreicher Autoren schürte, deren Namen seitdem über eine nicht nachlassende Anziehungskraft verfügen. Wie die Cocteaus beispielsweise, oder André Gides, Oscar Wildes, Thomas und Klaus Manns, Arthur Rimbauds, Paul Verlaines, F.G. Lorcas, James Baldwins, Hans Henny Jahnns und Marcel Proust. Dessen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mich über Jahre hin begleitet hat.

Spektakulär war dagegen der Fall des 1960 im Hamburger Merlin Verlag erschienen Romans Jean Genets „Notre Dame des Fleur“. Dessen Erscheinen damals ein juristisches Verbotsverfahren nach sich zog. Auf der Grundlage des den Bereich „unzüchtigen Schrifttums“ abdeckenden § 184 StGB. Lediglich dem damaligen Hamburger Generalstaatsanwalt Ernst Buchholz war es damals gelungen, dies im Rahmen eines langwierigen Strafverfahrens abzuwenden. Was dem 1965 im Rowohlt Verlag erschienen Roman „Querelle“ desselben Autors nicht ersparte, sich auf der Liste Jugendgefährdender Schriften wiederzufinden. Während es meinem Buchhänder vorbehalten war, Abstand davon zu nehmen, sich meine Volljährigkeit mittels Ausweisvorlage bestätigen zu lassen.

Als Angehöriger einer Generation von Homosexuellen, die das Dritte Reich noch am eigenen Leib erfahren haben, war sein Umgang mit mir von spürbarer Ambivalenz bestimmt. Einerseits war ein Interesse da, andererseits vermied er, sich weiter vorzuwagen, als ihm ratsam schien. Schwankend zwischen dem kaum verhohlenen Verlangen nach dem unmittelbaren, intensiven Kontakt und der gleichfalls an ihm nachvollziehbaren Reserve und Zurückhaltung darin. Mehr als lebhafte Gespräche über aufregende Bücher und Autoren oder die eine oder andere Einladung zur Tasse Kaffee waren jedoch nicht drin.

Und das in einer Phase meines Lebens, in der ich darauf angewiesen war, mich nicht nur auf der Ebene der Fantasie damit zu befassen. Weil auch die Erfahrung des praktischen Umgangs damit gefragt war. Zwischen Mannheims Wasserturm und den Heidelberger Schlossterrassen. Auch die „Kupferkanne“ in den N-Quadraten am Tattersall bot sich dafür an. Ebenso wie die Bar „Bei Wilma“. Die damals nicht nur den Thomas-Fritsch-Fanclub beherbergte, sondern dessen gleichfalls schwulen Fans auch den Kontakt mit ihrem Idol ermöglichte. Und zwar im Rahmen gelegentlicher Autogrammstunden des Stars, der damals an den Heidelberger Städtischen Bühnen engagiert war.

Weit eher boten sich jedoch nächtliche Streifzüge auf Klappen oder in Parkanlagen dafür an, Kontakt zu finden. Mit manchem, der bereit war, sich nicht nur aus dem Stand heraus zu verausgaben, sondern sein Lager mit mir zu teilen. Um sich dabei nicht nur als bemerkenswerter Lover zu entpuppen, sondern Tier in Bett. Weil er unter Vorbereitung des Eindringens in mich, Abstand davon nahm, sich einer Handvoll Spucke oder des Griffs nach einer Tube Vaseline zu bedienen. Ich: Mit dem Gesicht dabei im Kissen und mit zusammengebissenen Zähnen darum bemüht, dies ohne größere Blessuren hinter mich zu bringen. Ehe es am Morgen danach, mit noch immer davon wundem Arsch, soweit war, mich im Gefühl des Bedauerns zu verausgaben, sein Laken viel zu rasch mit meinem Samen versaut zu haben. Wobei sich die Antwort auf die Abschied nehmende Frage danach erübrigte, weil sie diese bereits vorwegnahm: „Es hat wohl keinen Sinn, dich um ein Wiedersehen zu bitten!“ Mir nicht ersparend, mich beim zufälligen Wiedersehen zum raschen Wechsel der Straßenseite zu entschließen. Als Ergebnis der für mich damit verbundenen Peinlichkeit und des für Schwule damals charakteristischen raschen Partnerwechsels und Hangs zur ihnen vielfach bescheinigten Promiskuität.

Der eigentliche Skandal bestand jedoch in der bruchlosen Übernahme des § 175 ins Strafrecht der Bonner Republik nach dem Krieg. Als dem Ausdruck des allen gemeinsamen „gesunden Volksempfindens“. Welches ausschlaggebend dafür war, dass die Zahl der unter Adenauer davon betroffenen Opfer die unter Hitler sogar noch übertraf. Weshalb das Dritte Reich bei seiner Kapitulation am 8. Mai 1945 für Schwule noch nicht zu Ende war.

Schon bei meiner Ankunft am Bahnhof Zoo in Berlin war ich mir angesichts der unter seinem Dach untergebrachten „Heinrich Heine Buchhandlung“ bewusst, es in ihr mit einer solchen besonderen Charakters zu tun zu haben. Um für mich künftig eine herausragende Rolle zu spielen. Nicht nur, weil ich durch ihren Inhaber ab meinen früheren Buchhändler erinnert war, sondern auch weil ich den Laden damals nicht ohne aufregende Lektüre verlassen habe. In Gestalt des ersten Bandes einer fünfbändigen Werkauswahl Marcel Jouhandeaus aus dem Rowohlt Verlag. Womit der Grundstein zu weiteren Kontakt gelegt war. Mit dem Buchladen als solchem, aber auch dessen Inhaber. Der später, dank erreichter Altersgrenze, zur Weitergabe des Stab an einen jüngeren Mitarbeiter entschlossen war: Hans Brockmann. Der ab diesem Zeitpunkt die Zügel in die Hand nahm und Geschicke des Buchladens lenkte. Klug genug, dessen Konzept nicht nur zu bewahren, sondern weiter auszubauen. Unter besonderer Berücksichtigung  seiner speziellen Atmosphäre. Als Ergebnis des überwältigenden, auf engstem Raum untergebrachten und bis unter die Decke gestapelten Titelangebots. Was dem Raum trotz seiner verschachtelten Enge, oder gerade wegen ihr, eine besondere Note verlieh. Unter der Leitung eines Inhabers, der neben einem überragenden Orientierungssinn auch über ein enzyklopädisches Wissen verfügte. Ihm ermöglichend, einen gefragten Titel immer griffbereit an der Hand zu haben.

Auffällig und bemerkenswert war auch, es in ihm mit dem neuen Typ eines offenen und zunehmend unverklemmten Schwulen zu tun zu haben. Dessen Selbstbewusstsein seit der 1969 vom Bundestag in Bonn verabschiedeten Reform des § 175 unaufhaltsam im Wachsen begriffen war. Sich von seinem Vorgänger durch ein neues Lebensgefühl und Körperbewusstsein unterscheidend. Was auch anhand seines Erscheinungsbilds nachvollziehbar war. Dank für ihn charakteristischen Sex Appeals, als dem Ergebnis seiner Vorliebe für körpereng geschnittene Bluejeans und den Body betonender T-Shirts, wie sie James Dean und Marlon Brando in Filmen Hollywoods weltweit populär machten. Zur Abgrenzung und als Gegengewicht zur Vorliebe seines Vorgängers für in überwiegend dunklen Farben gehaltene Anzugstoffe unübersehbar großzügig bemessenen Zuschnitts. Zur Kaschierung eines sich nicht ans Licht wagenden Körperbewusstseins und Selbstwertgefühls. Um damit zu vermeiden, körperliche Vorzüge auszustellen und zur Schau zu tragen. Wie es für Hans Brockmanns Generation damals an der Tagesordnung war.

Dem es in den folgenden Jahren gelungen ist, die Heinrich Heine Buchhandlung in Westberlin zu einer Institution zu machen, die auch für Angehörige des jungen im Aufschwung begriffenen Ensembles der Schaubühne am Halleschen Ufer interessant war  und dazu angetan, sich die Klinke dort in die Hand zu geben. Edith Clever, Jutta Lampe, Otto Sander und Bruno Ganz waren dort ebenfalls willkommen, wie namhafte Autoren von jenseits der Mauer, denen Hans Brockmanns Laden bei ihren seltenen Besuchen in Westberlin als Treffpunkt diente. Und in manchen Fällen, wie jenem Heiner Müllers, auch als Briefkasten, zum Zweck notwendiger Korrekturen von Druckfahnen des Suhrkamp Verlags.

Aber auch gewöhnliche Homosexuelle wie ich, durften sich dort willkommen fühlen. Auch und gerade dann, wenn sie sich kurz vor Ladenschluss blicken ließen. Für Hans Brockmann muss es damals wohl eine harte Prüfung gewesen sein, mir Alexander Zieglers Roman „Die Konsequenz“ in die Hand zu drücken. Andererseits gab es in Berlin damals keinen anderen Buchladen, in dem ich mich danach zu fragen getraut haben würde. Mich kurz vor Ladenschluss, gegen 18 Uhr 30 dort blicken zu lassen, konnte aber durchaus auch bedeuten, den Inhaber zu veranlassen, die Tür von innen abzuschließen. Unter Vertiefung des Kontakts mit seinem ihn dazu einladenden Kunden. Wobei ich nicht behaupten möchte, dass dies die Regel war, dies aber auch nicht ausschließen kann und mag. Unweigerlich den gemeinsamen Gang in den Keller nach sich ziehend, in dem das Lager des Buchladens untergebracht war. Unter der Voraussetzung gegenseitiger Übereinstimmung und Sympathie. Um sich des Gangs in die Katakomben, als unerschöpfliche Bücher-Fundgrube, nicht ausschließlich zur Befriedigung eines ausgefallenen Bücherwunschs zu bedienen.

Genauso gut konnte es sein, sich auch in anderer Hinsicht als nicht zimperlich zu entpuppen. Beispielsweise dann, wenn es sich darum handelte, mir zugefallen, mich in voller Absicht dessen vor ihm zu bücken. Oder in Erwartung des Stroms des Samens meines Gegenüber darauf einzustellen, mir keinen Tropfen davon entgehen zu lassen. Wie es in einer Phase des intensiven Erlebens und starker, rauschhafter Gefühle eher die Regel als die Ausnahme war. Nachgerade süchtig danach. In einem Zeitraum von annähernd 28 Jahren. Also in einer Zeit, in der sich auch Hans Brockmanns Aufgabe und Funktion nicht ausschließlich in der des Buchhändlers erschöpfte. Weil er auch noch über ganz andere Vorzüge verfügte, die den Umgang mit ihm zum Erlebnis machten. Im Hinblick auf diese jedoch spätestens ab den neunziger Jahren ein Wandel spürbar war. Weil das Virus samt ihm eigentümlichen Krankheitsbilds auch an ihm nicht spurlos vorüber ging: HIV-positiv. Auf lange Sicht war der Inhaber der Heinrich Heine Buchhandlung im Bahnhof Zoo also nicht davor zu bewahren, sich zunehmend aus dessen operativen Bereich zurückzuziehen, ehe es im Sommer 1994 soweit war, sich für immer davon zu verabschieden.

Einige kompetente Mitarbeiter von ihm haben sich noch eine Weile mit Erfolg um die Weiterführung des Buchladens bemüht. Einmal ist es ihnen noch gelungen, die von der Bahn beschlossene Schließung abzuwenden. Mit der Hilfe des Suhrkamp-Chefs Siegfried Unseld und Bahnchefs Heinz Dürr. Bis es eines Tages, nach einem halben Jahr soweit war, einer seitdem im Bahnhof untergebrachten Bücherboutique mit dem Schick und Charme einer gewöhnlichen Bahnhofsbuchhandlung Platz zu machen: Quadratisch. Praktisch. Gut.

Passend dazu folgende Anekdote: Männliche Nutzer eines Berliner Stadtrundfahrtunternehmens müssen es sich beim Passieren der dem Bahnhof Zoo benachbarten Jebenstraße zuweilen gefallen lassen, sie davor zu warnen, sich zu bücken. Als einem klassischen, Schwule diskriminierenden Klischee, das nicht dazu angetan ist, zur Aufwertung des Bahnhofs Zoo beizutragen. Wie es im Fall von Hans Brockmanns Heinrich Heine Buchhandlung über etliche Jahrzehnte der Fall war.

Heinrich Heine Buchhandlung Berlin

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