Wolfgang Bächler, geboren am 22. März 1925 in Augsburg, war bei Ausbruch des 2. Weltkriegs knapp vierzehn Jahren, wurde aber noch kurz vor seinem Ende im Alter von 18 Jahren eingezogen, hat seine letzte Phase also am eigenen Leib erlebt, was sich vor allem in seinen Gedichten wiederspiegelt:Zitat: „Die Erde bebt noch von den Stiefeltritten/ die Wiesen grünen wieder Jahr für Jahr. / Die Qualen bleiben, die wir erlitten / ins Antlitz, in das Wesen eingeschnitten. / In unseren Träumen lebt noch oft, was war.“
Um damit an Erfahrungen anzuknüpfen, die sich auch im 1950, im Alter von 25 Jahren vorgelegt Roman „Der nächtliche Gast“ niederschlagen. Vor dem Hintergrund der damals das literarische Leben im Nachkriegsdeutschland dominierenden Literatur des Kahlschlags und seines minimalistischen Sprachduktus, der Autoren der inneren Emmigration dazu diente, an ihren Wurzeln anzuknüpfen und eine neue literarische Tradition zu begründen, die alle in ihrer überwiegenden Zahl in Vergessenheit geraten sind, weil es ihnen nicht gelungen ist, an der inzwischen gewachsenen Weltliteratur zu partizipieren, sich also anderen Strömungen als den unmittelbar eigenen zu öffnen. Uns heute gegenwärtig, sind allenfalls noch Autoren, denen es gelungen ist, einen anderen Klang und Tonfall anzuschlagen, wie beispielsweise Wolfgang Borchert in „Draußen vor der Tür“.
Niemand denkt im Rückblick auf diese Zeit an den damals noch sehr jungen Autor und Dichter Wolfgang Bächler, dem es mit seiner bild- und ausdrucksstarken Lyrik gelungen ist, Gottfried Benns und Karl Krolows Aufmerksamkeit zu gewinnen. Was wohl mit an der Einladung des damals 23jährigen zum ersten Treffen der Gruppe 47 beteilig war.
Denkbar ist, dass sein 1950 veröffentlicher Roman „Der nächtliche Gast“ mit am Misserfog des Autors verantwortlich zu machen ist. Nicht dank mangelhafter literarischer Qualität, aber aufgrund jener für seinen Roman charakteristischen Motive: „Inzest“ und „Homoerotik“, mit denen er den damals vorherrschenden Zeitgeist verfehlt hat, der wenige Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens der jungen Bundesrepublik nachvollziehbar war, in der Regierung, ebenso wie in der Justiz, bestimmt vom sogenannten gesunden Volksempfinden, als Relikt der immer noch allgegenwärtigen Nazi-Ideologie. Vor deren Folie sich das bundesrepublikanische Leben entwickelte, das vor allem von überall spürbaren Verdrängungsmechanismen bestimmt war und von der Unfähigkeit den Opfern Nazideutschlands ein Requiem zu singen. Um jeden, der daran zu erinnern wagte, rasch als Nestbeschmutzer und Brunnenvergifter zu entlarven.
Anders als im Fall von Wolfgang Koeppens Verdienst, der ungeschminkten Anklage restaurativer Tendendzen der Nachkriegs-BRD, besteht das Wolfgang Bächlers in der ungeschönten Darstellung des spießbürgerlichen Lebens in der westdeutschen Provinz, in der nichts mehr an das untergegangene Dritte Reich erinnert. Und dessen Protagonisten, wie im Fall Ritschis, als dem jugendlichen Helden an Bad Kressenbachs Kurtheater, darauf angewiesen sind, bei Null zu beginnen. Auch im Hinblick auf die für ihn charakteristischen Pubertätswirren, vor dem Hintergrund von Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“. In denen auch das weibliche Bühnenpersonal keine unerhebliche Rolle spielt. Während Ritschi seinem Bühnenkollegen Dölly mit besonderer Abneigung begegnet: „Dölly mochte mich nicht und ich hasste ihn. Er hat ein Gesicht, in das ich stundenlang hätte reinschlagen können. So ein gelecktes Gesicht und die öligen Haare. Ein widerlicher Bursche.“ (S. 36, der Ullstein-Tb.-Ausgabe von 1980).
Das eigentliche Drama des Romans, das sich mit der Wucht einer griechischen Tragödie in drei Akten entwickelt, beginnt für Ritschi, mit der Begegnung mit dem aus dem Exil heimgekehrten Bühnenstar Divorni, dem man Auftritte in Hollywood-Filmproduktionen nachsagt. Und an dem Ritschi, trotz Vaterfigur, zunächst nichts an den eigenen Vater Billbro erinnert, der mit Ritschis Mutter während des Krieges an den städtischen Bühnen in Danzig verpflichtet war, sich aber rechtzeitig aus dem Staub gemacht und dem Vernehmen nach ebenfalls ins Ausland abgsetzt hat, im Unterschied zu Ritschis Mutter, die es nach Berlin verschlagen hat und von der wir wenig mehr wissen, als es in ihr mit einer mäßig begabten Sängerin zu tun haben. Deren Sohn in Abwesenheit seiner Eltern vom ebenfalls in Danzig verpflichteten Ehepar Katzeck adoptiert worden ist. Mit denen er in den Nachkriegswirren am Kurtheater in Bad Kresenbach in der bayrischen Provinz gestrandet ist.
Mit Divorni, seinem Bühnenvater, verbindet Ritschi am Vorabend der beide erwartenden Premiere, vor allem die von jenem in Aussicht gestellte Unterstützung seiner ihn erwartenden Schauspielausbildung. Was genügt, um dessen Werben um ihn zu ignorieren, um sich angesichts dessen Bereitschaft, ihn auf den Sockel seiner ihn anbetenden Bewunderung zu hieven, geschmeichelt zu fühlen. Während ihm dessen Tochter Hella dazu dient, sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Die in München eine Tanzausbildung absolviert, um aus Anlass der Premiere ihres Vaters in Bad Kressenbach als Tänzerin zu gastieren, um schließlich im Höhepunkt des mit Ritschi vollzogenen Akt des Beischlaf zu gipfeln. Vom eigenen Vater dabei überrascht. Der Ritschi seinerseits an die Wäsche will und keinen Hehl daraus macht, einen Narren ihm gefressen zu haben.
Um als Drama unaufhaltsam seinem Höhepunkt und Schlussakkord entgegenzutreiben, mit für alle Beteiligten verhängnisvollen Folgen. Die Ritschi zur Flucht nach München veranlassen. Zu der ihm der Rezensent einer Münchener Abendzeitung Kaubrich verhilft, der dorthin unterwegs ist. Um Ritschi für die Dauer einer Nacht seine Wohnung als Unterschlupf anzubieten, und zwar aus ausschließlich lauteren Motiven, also in der Absicht, ihm am folgenden Morgen zu ermöglichen, seinen Zug nach Hof an der Zonengrenze zu erreichen: auf dem Sprung zu seiner Mutter nach Berlin, um sich damit den Folgen der hinter ihm liegenden verhängnisvollen Nacht zu entziehen.
Nach diversen anderen Veröffentlichungen war es dem Berliner Ullstein Verlag vorbehalten, den Roman1980 mit einer Neuausgabe der deutschen Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu bringen. Wovon sich Michael Krüger (Verlagsleiter bei Hanser in München) in seinem Nachwort eine größere Resonanz versprach, als sie dem Autor bei seinem Debüt 1950 beschieden war.
Den Roman „Der nächtliche Gast! habe ich vor …15 Jahren (bereits) gelesen. Sein Autor wies mich auf die … erwähnte Grenze hin: Homosexualität (und) Inzest, (als) Tabuverletzungen, die er für das Vergessen (des Romans) verantwortlich macht.
Richtig ist, dass es sich in diesem Roman (so Krüger) um „Die Beichte eines Mörders“ handelt – „erzählt in einer Nacht“. In einfacher und schnörkelloser, aber nicht schlichter und naiver, sondern poetischer Sprache. Deren Eindringlichkeit dem Leser bei der Lektüre seine volle Aufmerksamkeit abverlangt. Wie sie dem spannungsgeladenen Stoff des Roman angemessen ist. Beispielhaft für die Geschichte der Nachkriegsjugend, in Gestalt des 16jährigen Ritschi. Der Divornis Anvancen mit der unbedarften Naivität seiner jungen Jahre begegnet.
(D)er fuhr mit seinen Fingern über meine Stirn (so Ritschi) und über die Augenbrauen und über die Nase und über den Mund und sagte: „Du hast schöne Züge“. Und die Lippen schob er mir auf und zu und berührte meine Zähne und meine Zunge, bis seine Fingerspitzen ganz feucht waren. Dann kam er mit seinem Mund an mein Ohr und flüsterte: „Du!“ Und er drückte den Mund auf mein Haar und sagte: „Du musst nun gehen! Ich muss mich noch über meine Rolle machen“. Er stand auf und zog mich hoch, presste mich schnell an sich … „Addio!“
Mit dem Erfolg, dass das Unheil vor der von beiden Betroffenen zu absolvierenden Premiere nicht aufzuhalten war. Vor dem Hintergrund sich überstürzender Ereignisse. Um im Leben der Betroffenen eine tiefe Schneise zu schlagen. Unterm für Ritschi damit verbundenen Eindruck: „dass ich kein Junge mehr war“. Mehr möchte der Rezensent angesichts der damit verbundenen Folgen, als einer entscheidenden Wende im Verlauf des Romans nicht vorwegnehmen und verraten. Abgesehen davon. dass Ritschis Beichte Auskunft darüber gibt, dass sein Leben ab dieser verhängnisvollen Nacht damit auf eine neue Grundlage gestellt war. Mit nicht nur für ihn, sondern alle Beteiligten verheerenden Folgen. Ebenso unabsehbar wie unaufhaltsam. Und das auf schmalen 150 Seiten, die es in sich haben.
Uwe Wittstock, Lektor des Frankfurter S. Fischer Verlags, gibt Auskunft darüber, welche Schwierigkeiten er hatte, Bächler im Fall eines zur Veröffentlichung eingereichten Romanmanuskripts für von ihm vorgeschlagene Korrekturen und einem abschließenden Kapitel zu veranlassen, um schließlich darin zu scheitern. Der Roman ist trotzdem erschienen, um das Schicksal seines Erstlings zu teilen. Eines Autors, der später nur noch mit „Traumprotokollen“ in Erscheinung getreten ist. Zur Aufarbeitung gesundheitlicher Handicaps in Gestalt depressiver Schübe. Um in einer Art Schreibblockade zu münden, wie sie auch für die letzten Jahre Wolfgang Koeppens charakteristisch sind, in dessen Werk ebenfalls homoerotische Motive eine Rolle spielen.
Ob wir es in dem Verfasser Bächler mit einem schwulen oder homosexuellen Autor zu tun haben ist nicht ersichtlich. Seine Biografie gibt lediglich Auskunft darüber, es in ihm mit der Gestalt eines hochgradig gefährdeten Menschen zu tun zu haben, im Hinblick auf den nicht ersichtlich ist, auch Momente des Glücks erfahren zu haben. Am 24. Mai 2007 hat er sich für immer von (s)einem schwierigen Leben verabschiedet. Im Rückblick darauf, dürfte es kein Zufall sein, dass sein Roman „Der nächtliche Gast“ in der nicht gerade publikumswirksamen Eremitenpresse erschienen ist. Bekannt dafür, jungen unbekannten schwulen Autoren eine Plattform als Sprungbrett geboten zu haben, wie im Fall des späteren offen schwulen Autors Detlef Meyer.
Vielen Dank für diesen Tipp. Gerade für so etwas bin ich sehr dankbar.
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