Schwule mussten es sich als Einzelne und in der Masse über Jahrhunderte gefallen lassen, Jagd auf sie zu machen. Ehe sie in der Lage waren, sich sichtbar zu machen: Ich bin schwul und wer bist du, mir das streitig zu machen?
Sichtbarkeit war der erste Schritt, um eine Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, sich einer Minderheit gegenüber schuldig gemacht zu haben. Auf der Grundlage des allen gemeinsamen gesunden Volksempfindens, das u.a. den Kuppelparagraphen hervorgebracht hat, das Mutterkreuz, Abtreibungsverbot, die Diskriminierung der Frau und eben jenen berüchtigten Paragraphen 175, der viel Unheil stiftete – im Fall von Generationen von Menschen, deren Verbrechen darin bestand, auf ihrer von der Mehrheit abweichenden Liebe zu beharren. Angeklagt des „kranken“ und „kriminellen“ Verlangens nach dem eigenen Geschlecht, um keinem damit zu schaden, als sich selbst.
Generale mussten unehrenhaft ihren Abschied nehmen, nur weil einer frech behaupten durfte, sich in die Nähe schwuler Treffpunkte gewagt zu haben. Und das zu einem Zeitpunkt, als die Reform des besagten Paragraphen bereits beschlossene Sache war.
Ein Präsident musste aus anderem Anlass abtreten. Wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und Vorwurfs, es auch sonst nicht so genau zu nehmen. Übrig blieb am Ende das Geschenk eines Bobbycar. Und das Verhalten eines von den Medien Gehetzten, der alles falsch gemacht hat, was in seinem Fall falsch zu machen war. Verschleierungsabsicht, statt in der Öffentlichkeit für übersichtliche Verhältnisse zu sorgen. Salamitaktik, statt mutigen Auftretens. Was der Handlungsweise dessen entspricht, der was zu verbergen hat. Worüber er dann zurecht gestrauchelt ist.
Auch Sebastian Edathy ist tief gefallen. Wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Und wird sich gleichfalls nie wieder davon erholen. Nicht weil man ihn eines strafwürdigen Delikts überführt hat. Der bloße Verdacht genügte, um einen so tief zu Fall zu bringen, wie ihn. Die Schande bleibt, als die der einsamen Lust am Bild des die Unschuld verkörpernden Opfers, das es nicht verdient hat, dass ein Erwachsener sich an ihm vergreift und in sträflicher Absicht zu schaffen macht. Wie es vielfach immer noch der Fall ist, im einsamen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich des Privaten, in dem einer, als der mit der Lust am Kind Geschlagene sich tummelt und schuldig macht. Um sich auch in der Mitte von Religions- und anderen Gemeinschaften breitzumachen, die den Humus dafür bilden.
Die Partei Bündnis 90/Grüne arbeitet stellvertretend für andere gesellschaftliche Bereiche ihre Vergangenheit auf. Das Schuldbekenntnis als Partei und die Scham Einzelner, sich dazu bekennend, weggeguckt zu haben, ist ehrenwert und verdient Respekt. Ändert aber nichts daran, dass sich in der Mitte unserer Gesellschaft eine inakzeptable Form des Sexismus breitmacht, ebenso wie die Tendenz zur menschenverachtenden Ausbeutung Unschuldiger. Dies nicht nur tolerierend, sondern zum Prinzip erhebend. Beispielsweise als Jugendwahn. Sex sells ist eine bekannte Formel, an der sich keiner stößt, weil Geld damit zu verdienen ist. Und das allein zählt. Was sowohl auf das Beispiel des Schmuddelgeschäfts einer Milliarden schweren Pornoindustrie zutrifft, als auch auf andere gesellschaftliche Bereiche, deren Werbung sich des gleichen Prinzips bedient. Im Fall von Autosalons beispielsweise und auf der Kühlerhaube platzierter weiblicher Nacktheit, als vertrautem Bild, an dem keiner Anstoß nimmt.
Eltern wagen nicht, nackt mit ihren Kindern zu posieren oder sich beim Baden am Strand zu zeigen Aus Furcht davor, zu Spekulationen Anlass zu geben. Der Vorwurf, dem Objekt seines unterstellten Begehrens in es demütigender Absicht zu nahe getreten zu sein genügt, um im Fall einer Person des Öffentlichen Lebens die Hexenjagd zu eröffnen. Von der einer sich auch dann nicht wieder erholt, wenn es nicht zu einer Verurteilung im Sinne der Anklage reicht.
Vereinzelt aber in zunehmend kürzer werdenden Abständen wird der Ruf laut, dass auch die queere Community und schwule Emanzipationsbewegung Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit leisten soll. In Bezug auf verdächtige schwarze Schafe in ihren Reihen. Dann flackern kurz Namen auf, die in der schwulen Szene und ihrer Geschichte eine Rolle gespielt haben (sollen). Damals nicht, aber heute sind wir in der Lage, Stellung zu nehmen und darauf aufmerksam zu machen, dass sogenannte einvernehmliche sexuelle Handlungen, die ein Erwachsener an Kindern vollzieht, gar nicht gehen, also in keiner wie auch immer gearteten Konstellation akzeptabel sind.
Vor Jahren wäre eine solche öffentliche Stellungnahme undenkbar gewesen. Von gesellschaftlich Geächteten und Stigmatisierten darf keiner Erwarten, sich das Geschäft und Handwerk des Denunzianten zu eigen zu machen. Stellvertretend für eine Gesellschaft, die das von ihm verlangt und erwartet, selber aber vornehm dazu schweigt und nichts davon wissen will. Sondern davon lebt, vor allem, was ihr unbequem ist, die Augen zu verschließen. Wenn sie sich einem Gegenstand im peinigenden Gefühl der damit verbundenen Berührungsangst nähert, dann in der den jeweiligen Tatbestand verschleiernden Absicht. Was sehr oft der Nährboden dafür ist, wovon Lesben ebenso betroffen waren, wie Schwule, Transmenschen oder Bisexuelle. Und andere es immer noch sind, deren Verlangen und Begehren dazu bestimmt war und ist, es mit Vorliebe unter den Teppich zu kehren.
Besonders spektakulär hat sich der Fall des schwulen Knabenmörders und Sexualstraftäters Jürgen Bartsch ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingeschrieben. Der in den Siebziger Jahren ein Heer von Gutachtern und Sachverständigen beschäftig hat. Doch erst dem schwulen Autor und Journalisten Paul Moor ist es gelungen, den Fall Bartsch aufzuarbeiten und deutlich zu machen, dass die Grenzen zwischen Opfer und Täter zuweilen fließend sind. Wie im Fall Bartschs. Den die Schweizer Psychotherapeutin Alice Miller zum Anlass nahm, ihm in ihrem Standardwerk „Am Anfang war Erziehung“ ein Kapitel zu widmen. Bemerkenswert auch die ungeklärten Umstände seines Todes. Als Ergebnis einer am Täter auf eigenen Wunsch vollzogenen Kastration, bei der er nicht aus der Narkose erwacht ist.
Weniger prominent dagegen der Fall Peter Schult, der sich ebenfalls in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts des Deckmantels eines „homosexuellen Anarchisten“ bediente – zur Schilderung seiner Kontakte mit jugendlichen Trebegängern und Strichjungs. Der Klappentext seiner 1982 in einem schwulen Verlag erschienen Schrift „Gefallene Engel“ toleriert dies mit dem Hinweis auf die „Lust des alten Mannes am jugendlichen Eros“. Und stand damals nicht allein damit. Auch ich muss bekennen, den Zusammenhang zwischen der Lust des alten Mannes und dem sexuellen Missbrauch Jugendlicher ausgeblendet zu haben.
Heute dreht sich die Diskussion wieder vermehrt um solche, deren Begehren sich am Kind und Jugendlichen orientiert, denen einer in sträflicher Weise zu nahe tritt. Weshalb für Pädosexuelle in unserer Gesellschaft kein Platz ist. Solange diese Auffassung überwiegt, werden ihre Opfer weiter unter ihren Nachstellungen leiden. Weil die Täter nicht über die Möglichkeit verfügen, ihre Neigung zu artikulieren. Weshalb ihnen nur die Wahl des Versteckspiels bleibt und der Verdrängung ihres Verlangens, als dem Gegenteil seiner um Aufarbeitung bemühten Sublimation. Ein derart starkes und forderndes Bedürfnis zu unterdrücken ist gleichbedeutend damit, sich auf unaufhaltsam gewaltsame Weise Bahn zu brechen. Zum Schaden der davon betroffenen Opfer.
Dem ist nicht anders zu begegnen, als damit, uns deren Sache zu Eigen zu machen. Was die Notwendigkeit bedingt, dem potentiellen Täter den Raum zu lassen, den er braucht – zur Artikulation dessen, was ihm und unserer Gesellschaft gleichermaßen zu schaffen macht. Anders ist die ihn peinigende Leidenschaft als Trieb nicht beherrschbar und in den Griff zu kriegen. Heute sieht es aber nach wie vor immer noch so aus, dass das Wort und die Tat gleichermaßen auf der Anklagebank sitzen und kaum unterscheidbar sind. Sodass keiner sich artikulieren darf, ohne damit zur Eröffnung der Hexenjagd auf ihn einzuladen.
Wenn wir uns als Gesellschaft nicht darüber verständigen, endlich die Konsequenz daraus zu ziehen, werden wir weiter diejenigen schädigen, die immer bereits den Schaden davon hatten. In Gestalt all jener zahlreichen Kinder, die als Missbrauchsopfer auf der Strecke bleiben. In allen Bereichen, die prädestiniert dafür sind, früher oder später Schlagzeilen zu machen: Kirchen, Religionsgemeinschaften, Jugend-, Sport- und andere Verbände und Bereiche, sowie Parteien. Ganz zu schweigen von der jeweils eigenen Familie.
Unsere Gesellschaft ist in Bezug auf dieses Thema zur Zeit in einem Zustand hochgradiger Erregung – zur Ablenkung davon, offenbar keine Ahnung davon zu haben, was not tut und worum es dabei geht.Weshalb die Öffentlichkeit einfach nur rot sieht. Was vor vierzig Jahren im Fall Schwuler nicht anders aussah, als es noch ganz selbstverständlich war Pädos und Homos in einen Topf zu schmeißen. Davon ausgehend, es in beiden mit den zwei Seiten einer Medaille zu tun zu haben. Waren Homos nicht immer schon Kinderficker und mit ihnen identisch, also Deckungsgleich?
Solange unsere Gesellschaft jedes Jahr zahllose Drogentote in Kauf nimmt, anstatt mit der Legalisierung des Drogenhandels zu seiner Entkriminalisierung beizutragen, kann man keinem Pädosexuellen raten, den Weg der Schwulen einzuschlagen, sich sichtbar zu machen. Vor dem Hintergrund des nach wie vor immer noch im Raum schwebenden Verdachts, es im Fall des Todes Jürgen Bartschs, nicht mehr aus der Narkose erwacht, doch vielleicht nicht ganz so genau genommen zu haben.
Literaturliste:
Peter Schult, Besuche in Sackgassen, München, 1978
Paul Moor, Selbstportrait des Jürgen Bartsch, Frankfurt/M., 1972
Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/M. 1980
Thomas Mann, Tod in Venedig, Frankfurt/Main, 1913
Michel Tournier, Erlkönig, Hamburg, 1972
Felix Rexhausen, Berührungen, Darmstadt, 1969
Das Geschenk der Mütter des Dritten Reichs an den Führer, die Jugend!
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