Vom Eise befreit …

Österliche Gefühle zwischen Club Berghain in Friedrichshain, der Philharmonie am Kemperplatz und ihrer kleinen Schwester in der Wilmersdorfer Schaperstraße, eine Traditionsbar des alten Westberlin

Ostern besteht für mich seit Langem nicht mehr in dem Zweiklang von Tod und Auferstehung Christie, wie es für den traditionell christlich orientierten Mitmenschen der Fall ist. Trotz inzwischen eingetretener religiöser Entfremdung. Samt allem drum und daran. In der Osternacht immer noch vom Karfreitragsdrama von Petrus Verleugnung des Gottessohnes noch vor dem letzten Hahnenschrei und Judas Ischariots Verrat an ihm bestimmt – um wenig mehr als einer Handvoll lumpiger Silberlinge willen.

Spätestens seit meiner letzten Beichte im Alter von 14 Jahren bin ich selber dagegen auf einen anderen Weg eingestimmt. In der Absicht, die düstere Welt von Schuld und keiner Vergebung hinter mir zu lassen. Zumal auch mein Lieblingsvetter damals, dank Aufenthalts in einem Priesterseminar nicht mehr unmittelbar ansprechbar war. Mit Augen nur noch für Padre Marian, Zuchtmeister ihres Seminars, in Gestalt des sprichwörtlichen Rattenfängers von Hameln. Nicht müde, dessen Lied zu singen. In die dunklen Machenschaften des Boykotts der Aktion Saubere Leinwand gegen Ingmar Bergmans Film Das Schweigen verwickelt. Als der Inkarnation des Bösen, das die Padres damals in dem Film verkörpert sahen. Begründet in der ihm unterstellten Gottesferne. Sie ebenso peinlich berührend, wie alle darin dargestellten Formen weiblicher Sexualität und Selbstbefriedigung. Unzugänglich dem vor meinem Beichtvater vollzogenen Geständnis, nicht nur bereits daran gedacht, sondern es auch  getan zu haben. Und zwar mehr als einmal. Nicht nur allein, sondern auch mit einem anderen gemeinsam, als Mann.

Was mein Ansprechpartner zum Anlass nahm, mir alle drohenden Schrecken der ewigen Verdammnis auszumalen. Um nichts daran zu ändern, dass der Anblick eines Kameraden auf den Stufen des Altars aufregender war und eine größere Erfahrungsebene in sich barg, als der Empfang des Sakraments der Eucharistie in Gestalt des Brots in Form einer am Gaumen klebenden Hostie. Wild entschlossen, von dessen Leib zu essen und Blut zu trinken – in Gestalt seines Samen. Während es unserem jungen Kaplan beschieden war, sich in die täglichen Gebete meiner Mutter einbezogen zu erfahren. Nicht damit einverstanden, dass die Familie der Großmanns meines Schulkameraden Albert nicht müde war, sich als Ankläger von ihm aufzuspielen. Verbunden mit dem Vorwurf, sich als Leiter unseres Knabenchores erst in zweiter Linie für Alberts glockenhellen Knabensopran interessiert zu haben. Mit dem es ihm gelungen war, mir den Rang abzulaufen. Während er es sich beim gemeinsamen Bad im Baggersee im darauffolgenden Jahr in der Ebene unterhalb unseres Kaffs nicht hat nehmen lassen, mich mit dem Anblick der sich über den Rand des Gummi seines knappen Badeslip hinauswagenden fetten, weißen Made seines halb erigierten Glieds zu verblüffen. Hingerissen vom Anblick jenes dünnen Faden flockig milchiger Samenflüssigkeit auf seiner Spitze. Dazu einladend, mir keinen Tropfen davon entgehen zu lassen. Ohne Rücksicht darauf, dass meine Mutter nicht müde war, Alberts Sippschaft unlauterer Machenschaften zu bezichtigen. Weil diese nicht davon absah, in ihrer Kritik an unserem Kaplan auch vor dem Papst in Rom nicht haltzumachen.

Im aus Anlass der Karfreitagsliturgie ganz mit schwarzen Tüchern ausgeschlagenen Kirchenschiff unserer Pfarrgemeine hatte ich keine andere Wahl, als mich gegen jede derartige Vereinnahmung zu verwahren. Nicht länger dazu bereit, Padre Marian und seinesgleichen weiter eine Handhabe zu bieten, ihren Mut an mir zu kühlen. Seitdem hat das sinnliche Erleben die Funktion der Religion in meinem Leben abgelöst. In einem Akt nicht aufzuhaltender Befreiung davon. Auch in Gestalt der Lust am Mann – in allen seinen Facetten. Die sich traditionellerweise auch an Ostern in Berlin auf der Ebene unterschiedlich fetischisierter Formen abspielt und überall in der Stadt tummelt. Auch im sagenhaften Club Berghain, der aus besonderem Anlass auch in diesem Jahr wieder zu einer speziellen Fete einlädt: Man meat in Action. Wie jedes Jahr zu Ostern bietet das Berghain auch in diesem Jahr ein bachantisches Gelage mit allen undenkbaren Finessen und Ausschweifungen und guter Musik. 

Die für mich am Abend des 4. April jedoch andernorts spielt. Im Rahmen des gemeinschaftlichen Besuchs und Aufenthalts mit Freunden in der Berliner Philharmonie, als einem Erlebnis an sich. Mit dem Einsatz des Deutschen Symphonie Orchesters DSO als Höhepunkt. Und Edward Elgars (1875-1934) Liederzyklus der Sea Pictures (Seebilder) im Programm. Dessen Uraufführung am 5. Oktober 1899 unter der Leitung des Komponisten selbst stattfand. Gekrönt vom Auftritt der Solistin Clara Butt. An die das Programmheft mit dem Hinweis darauf erinnert, ihr Publikum nicht nur mit ihrem Gesangsvortrag, sondern auch mit ihrer einer Meerjungfrau nachempfundenen Silhouette begeistert zu haben. An ihrer Stelle brilliert an diesem Abend die Mezzosopranistin Christiane Stotijin. Nicht, wie angekündigt, unterm Dirigat des leider erkrankten Jaap van Zweden, für den der Finne Pietari Inkinen (siehe Foto) einsprang. Dessen Einsatz an der Spitze des DSO nichts zu wünschen übrig ließ.

Der eigentliche Höhepunkt des Abends bestand jedoch in der zweiten Hälfte des Programms in Gustav Mahlers Fünfter Symphonie. Die nicht nur ihrem zeitlichen Umfang nach (ca. 70. Minuten) den meisten Raum einnahm und den Abend bestimmte, sondern mit sämtlichen ihrer 3 Abteilungen das Leben als solches abbildete. Als Trauermarsch, gemessenen Schritts oder im kräftig angelegten, nicht zu schnellen Scherzo der 2. Abteilung. Mich an die schlichte, schmucklos an Gründonnerstag auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof in Schöneberg vollzogene Beisetzung eines meiner Nachbarn im Lebensort Vielfalt erinnernd, der sich für immer von uns verabschiedet hat, mittels an sich selbst vollzogenen Suizids. HIV-Positiv.

Einsamer Höhepunkt des Abends in der Philharmonie, das sehr langsame Adagietto, dessen Musik für immer mit Luchino Viscontis Film  Tod in Venedig verbunden sein wird. Mit Dirk Bogarde in der Rolle des Gustav Aschenbach, Gustav Mahler nachempfunden, in Thomas Manns gleichnamiger Novelle, einem sowohl literarischen als auch inzwischen filmischem Großereignis. Mit seinem Protagonisten an der Reling eines Schiffes unaufhaltsam seinem Ziel dem Lido von Venedig entgegenstrebend. Als dem Ort seines Abschieds von der Welt. Den ein Engel in Gestalt des Knaben Tadzio im alle Einzelheiten seines schlanken Körpers abbildenden Badedress, also unter vollem Körpereinsatz, über die Schwelle des Todes winkt.

Mit dem anschließenden Rondo Finale fand auch dieser Abend seinen Höhepunkt. Allegro. Also äußerst bewegt. Angelegt zwischen der Erfahrungswelt des Komponisten als eines Zerrissenen. Mit einem Bein noch in der Romantik angesiedelt, mit dem anderen bereits in der sich ankündigenden Moderne Fuß fassend. Und das mit mal raumgreifender, mal lyrisch zarter Tendenz oder folkloristisch ländlicher Idylle. Alle menschlichen Erfahrungsebenen mit einschließend. Und das unterm Dirigat eines sie tanzend nachempfindenden Finnen, der ungeachtet seiner Jugend demnächst die Leitung der Prager Philharmonie übernehmen wird. Was darauf hoffen lässt, dass sein gestriger Auftritt in Berlin nicht sein Letzter bleiben wird. Wo sich zur Zeit Sir Simon Rattle anschickt, seine letzten Jahre in Berlin glanzvoll zu bestreiten. Unaufhaltsam seinem drohenden Abschied von Berlin entgegeneilend. Verbunden mit meiner ganz persönlichen Erwartung, die ich wahrscheinlich mit vielen  teile, dass das Orchester der Berliner Philharmoniker bei der Wahl seines Nachfolgers eine glückliche Hand beweist.

Während manche der reizenden Teilnehmer an diesem Abend – aus Roberts, meines Nachbarn, und Wolfgangs gemeinsamem Freundeskreis – beim Abschied von ihnen daran denken lassen, sich nicht mit ihrem lebhaft zum Ausdruck gebrachten Beifall zu begnügen, sondern ins Ostergetümmel des schwulen Nachtlebens in Berlin zu stürzen. Dessen breit gefächertes Angebot manche Verlockung bietet. Was ich meiner eigenen Stimmung zu diesem Zeitpunkt nicht angemessen empfand. Im Wunsch, den Abend eher beschaulich ausklingen zu lassen. Mit Walter und Wolfgang gemeinsam unterwegs zur kleinen Schwester der Philharmonie am Kemperplatz. Angesiedelt in der Wilmersdorfer Schaperstraße. Einer schwulen Traditionsbar. In der vier Jahrzehnte lang Wanda am Zapfhahn stand. ehe sie sich infolge eines Krebsleidens 1997 für immer verabschiedet hat. Begründerin des legendären und immer noch existierenden Café Viktoria der Aids-Station des Auguste-Viktoria Klinikums in der Schöneberger Rubensstraße.

Wanda wurde Inzwischen von zwei reizenden jungen Barkeepern abgelöst, für die sich der Erfolg des Abends sichtbar in ihrer guten Stimmung und Laune niederschlägt – und im liebevollen Umgang mit ihren überwiegend älteren Gästen. Unter denen sich selbst der zufällig Hereingeschneite Fremde als Freund willkommen fühlen darf.

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