(K)ein ganz gewöhnlicher Tag unterm Dach des Lebensort Vielfalt Berlin

Freitag, 27. März, 8 Uhr vormittags: Ambulanter Eingriff im rechten Schulterblatt, wegen eines Sehnenfaserrisses und das Schulterblatt beeinträchtigender Fettablagerung, deren operative Entfernung ansteht. Die Spreedocs im Ullsteinhaus am Tempelhofer Hafen haben erfolgreiche Arbeit geleistet. Eine Stunde später ohne Komplikationen aus der Narkose erwacht und seitdem Beschwerdefrei. Trotzdem musste ich für die Rückführung die Hilfe eines Krankentransports in Anspruch nehmen, deren Mitarbeiter mich bis vor die Wohnungseingangstür begleitet haben. Weil anders ihr Auftrag nicht erfolgreich abzuschließen war. Eigener Kostenanteil dafür minimal. Das zum Thema des vielfach und oft gescholtenen deutschen Gesundheitssystems. 

Gegen 14 Uhr, nach kurzer Erholungsphase und Mahlzeit, Beginn des anschließend zu absolvierenden Bibliotheksdiensts im Haus des Lebensort Vielfalt. Einer Einrichtung der Schwulenberatung BerlinSeit drei Jahren unaufhaltsam im Wachsen begriffen. Bestandsmäßig aber nicht mal ansatzweise mit der Bibliothek des Schwulen Museums Berlin  vergleichbar. Der Unterschied besteht darin, es in unserer Bibliothek mit einer Ausleihe- und nicht Präsenzbibliothek zu tun zu haben.

Außerdem dient ihre Einrichtung als Treffpunkt und Warteraum für die zahlreichen täglichen Besucher der Schwulenberatung, die ihre sie unterstützende Hilfe in Anspruch nehmen. Als schwule Menschen jeden Alters. Mit und ohne Handicaps. Manche sind nur an einer Rechtsberatung interessiert, die die zahlreichen kompetenten Mitarbeiter der Einrichtung ebenfalls im Angebot haben. Genau wie Unterstützung bei Suchtproblemen, in Coming-out-Fragen, in der HIV-Prävention und -Begleitung oder für Transmenschen, deren steiniger Weg kein leichter ist.

Alle schneien mit ihren unterschiedlichen Erwartungen ins Haus und sind angesichts des Angebots der im Erdgeschoss untergebrachten Bibliothek erst mal überrascht. Weil sie keine Ahnung haben – von ihrer Existenz. Obwohl sie bereits seit drei Jahren fester Bestandteil des Lebensorts Vielfalt ist. Nachdem sie früher im Kölner Schwulenzentrum Schultz untergebracht war. Zwischen 2008 und 2012 für die Dauer von fünf Jahren eingelagert, ehe sie dann in der Charlottenburger Niebuhrstraße ihre Wiederauferstehung feierte. Betreut von einem kompetenten Team ehrenamtlicher Mitarbeiter. Neuester Zuwachs: Klaus. In etwa mein Jahrgang. Der sich im Gespräch als früherer Kollege im Kiepert-Haus (jetzt Haus Hardenberg) entpuppt. Kiepert am Knie war über Jahrzehnte in seiner hundertjährigen Geschichte eine feste Adress im Westen Berlins. Ehe sie im Rahmen der Finanzkrise von anderen Mitbewerbern vom Markt gefegt wurde. Die nicht in der Lage waren, eine solche Institution zu ersetzen. Deren Motto: Bücher für alle! aus Kostengründen nicht länger aufrechtzuerhalten war.

Das Haus der Vielfalt hat aber noch sehr viel mehr zu bieten, als die Einrichtung der Schwulenberatung und der Queeren Bibliothek AndersrumIn Gestalt eines Mehrgenerationenwohnprojekts,  in dem neben schwulen Männern jeden Alters und Frauen, mit ihren teils übertriebenen Erwartungen, weil sie diese möglichst immer gleich und aus dem Stand heraus verwirklicht sehen möchten, auch eine Gruppe männlicher Schwuler mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in einer hauseigenen Pflege-WG untergebracht sind. Unter denen Pete Sibley stellvertretend für Viele steht, wenn es sich darum handelt, zu ermessen, dass ein aktives Leben auch noch im Alter unmittelbar an der Aufrechterhaltung der erhofften Lebensqualität  beteiligt ist.

Wie ich sie mir ebenfalls bei meinem Einzug in das Haus versprochen habe. Ohne seitdem in meinen Erwartungen enttäuscht worden zu sein. Was leider nicht auf alle unsere Nachbarn übertragbar ist. Den Eindruck vermittelnd, ihre Ansprüche seit dem Rückzug aus dem aktiven Berufsleben spürbar heruntergeschraubt zu haben. Aber auch sie sind in der Lage, ihre persönliche Farbe mit einzubringen, Wie es unbezweifelbar auch den im Haus untergebrachten Nachbarinnen entspricht. Die jene Gottfried, unserem ältesten Mitbewohner, zu verdankende Vorhersage, nur für Zoff zu sorgen, widerlegt haben. Weil das Motto Mann und Frau, das passt nicht, in dieser Form nicht aufrecht zu erhalten ist. Auch wenn sich der Bezug anfangs noch etwas holprig gestaltete, sind solche anfänglichen Schwierigkeiten inzwischen überwunden. Die Unzufriedenheit dagegen bleibt. Angesichts nicht immer angenehmer Begleiterscheinungen des Alters. Von denen sich unsere jüngeren Mitbewohner bei ihrem Einzug glücklicherweise nicht haben abschrecken lassen. Als Gegengewicht zu zunehmend unter ihren älteren Mitbewohnern um sich greifenden Gebrechen. Und Lichtblick in der Wüste abnehmender Lebenserwartungen. Verbunden mit einem zuweilen auch erotisch stimulierenden Kick. Der im Umgang miteinander aber nicht überwiegt, sondern eine eher untergeordnete Rolle spielt.

Nicht alle Bewohner, Mitarbeiter und Besucher des Hauses sind darauf eingestellt, es in der Bibliothek mit einem echten Angebot zu tun zu haben. Das zu nutzen sich auf jeden Fall empfiehlt. Auch wenn die Zahl der ausgeliehenen DVDs die der Bücher zur Zeit übersteigt. Was ihre Mitarbeiter aber nicht daran hindert, den Buchbestand weiter auszubauen und auf einen aktuellen Stand zu bringen. Mithilfe eines bescheidenen Etats, der noch einige Jahre reichen muss. Weshalb wir für jede Spende dankbar sind,  aber auch vor Neuanschaffungen nicht zurückschrecken. Dem die Nachfrage leider noch nicht entspricht. Was unseren Optimismus nicht beeinträchtigt. Vor dem Hintergrund der im täglichen Umgang damit verbundenen Erfahrung, es im Buch, trotz Digitalisierungstendenzen, auch als Print weiterhin mit einem wichtigen Kulturgut und Lebensmittel zu tun zu haben. Das auch unterm Dach des LOV noch ausbaufähig ist. Entsprechend seiner gesamten Vielfalt. Im Rahmen eines Angebots an Unterhaltung, Wissen und Anregung auf unterschiedlichen Gebieten.

Wovon auch das Programm-Angebot im benachbarten Restaurant und Veranstaltungsort Wilde Oscar bestimmt ist.  In dem an diesem Abend der italienische Schauspieler und Entertainer Claudio Manuscalco mit seinem Ensemble über die Bühne tobt. Um seinen begeisterten Fans und Zuschauern ein italienisch gefärbtes musikalisches Angebot zu bieten. Abgerundet vom  Angebot des bewährten Wilde-Oscar-Teams in Gestalt eines Pasta-Menüs.

Während  nur wenige Schritte entfernt, die Queere Bibliothek Andersrum dem Schwulen Literatursalon Berlin seit einem Jahr als bewährter Treffpunkt dient. Und zwar einmal monatlich. Zum Austausch der neuesten Leseerfahrungen. Diesmal steht Michel Tourniers 1972 erstmals auf Deutsch erschienener Roman Erlkönig auf dem Programm. Mehr oder weniger aus Anlass des 90. Geburtstags des französischen Autors am 19. Dezember des vergangenen Jahres. Aber auch aufgrund der immer noch gegebenen Aktualität seines Themas. Was aber nicht unmittelbar auf Anhieb, sondern erst auf den zweiten Blick ins Auge springt. Weil der Roman mit seinen 350 Seiten eine Vielfalt von Themenkomplexen bietet: Zweiter Weltkrieg, Deutsche Besetzung Frankreichs, Drittes Reich, Nationalsozialismus, Auschwitz, Ostpreußen, Hitlers Wolfsschanze, Nationalpolitische Erziehungsanstalten, Vampirismus, Anthropophagie, Koprophilie, Fetischismus, Nekrophilie, Bestialismus, Pädophilie, anale Fixierung, oder Freuds Theorie polymorph perverser, die kindliche Unschuld beeinträchtigender Züge.

Eingebettet in die Geschichte des französischen Kriegsgefangenen Abel Tiffauge, den es infolge von Kriegswirren auf Burg Kaltenborn in Ostpreußen verschlagen hat. Als Mitglied ihres Leitungsteams. Das zunächst für den Nahrungsnachschub verantwortlich ist. Bis sich seine Kompetenzen auch in den Bereich der Nachwuchsrekturierung ausdehnen. Als Ergebnis des von Hitler in der benachbarten Wolfsschanze vorangetriebenen Programms zur „Endlösung der Judenfrage“ und Siegs des Dritten Reichs über den Bolschewismus sowjetischer Prägung. Vor dem Hintergrund der immer näher rückenden siegreichen Roten Armee. Als Ergebnis des  Untergangs der Wehrmacht in Stalingrad und des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944. Einem Wendepunkt in der bislang erfolgreichen Geschichte und Kriegführung Nazi-Deutschlands. Mit dem Ergebnis, dass Burg Kaltenborn ab diesem Zeitpunkt einem unablässigen Aderlass unterworfen ist. Dessen Insassen Hitler zunehmend als Menschenmaterial und Kanonenfutter dienen.

Sogar Hermann Göring auf seinem benachbarten Jagdgut Rominter Heide veranlassend, seinen Schwerpunkt wieder nach Karinhall in der Schorfheide bei Berlin zu verlagern. Als Chef einer der zahlreichen rivalisierenden Klans und Cliquen des Dritten Reichs, die sich gegenseitig stabilisieren. So sehr sie sich im Einzelnen auch voneinander unterscheiden. So darf man Göring als Gegenpol zum am Untergang orientierten Unhold Hitler empfinden. Eine Vielzahl Titel auf sich vereinigend: Reichsfeldmarschall, Reichsjägermeister, Herr der Luftwaffe und Preußischer Ministerpräsident. Mit einer Vorliebe für phantasievolle Uniformen samt Marschallstabs und Lust, sein Frühstück gerne auch mal im japanischen Kimono zu sich zu nehmen. Den Autor des Romans motivierend, sich in seinem Fall um eine unübertroffene satirische Schärfe zu bemühen. Während der Eindruck von der reizvollen und phantasiereichen und poetische Landschaft Ostpreußens zunehmend dem von um sich greifenden Flüchtlingstrecks Platz macht. Unter denen Abel Tiffauge auch mit seinen früheren französischen Kriegskameraden konfrontiert ist. Abgelöst vom Anblick einsamer, zerlumpter Gestalten – als den Überlebenden von Auschwitz. Unter denen ihm vor allem der jüdischen Knabe Ephraim ins Auge sticht. in Verbindung mit dem er einen Wandel vollzieht und seine Bestimmung findet. Im Abschied vom bislang von ihm verkörperten Bild des Unholds – hin zu dem des glücklichen, zwei Meter großen Riesen, der sich Ephraim, in ihn unterstützender Absicht, auf die Schultern hievt. Unterm am schwarzen Himmel über ihnen kreisenden sechszackigen (Davids)Stern.

Woraufhin es Burg Kaltenborn beschieden ist, die Rote Armee, vor dem Hintergrund von Hitlers Durchhalteappellen, zu veranlassen, nicht davor haltzumachen, ihre Mauern zu schleifen und keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Ihre Insassen ihrem Schicksal überlassend. In Gestalt eines Zwillingspaares beispielsweise. Im Hinblick auf das der Autor offen lässt, wer ihre dem Tod geweihten Körper auf die auf den Mauern der Burg aufgepflanzte Bajonette spießt.

Michel Tournier in seiner Schrift „Wind Paraklet“ (Frankfurt/Main, 1983): „So steht der gute Riese, der sich zum Lasttier hergibt, um kleine Kinder zu retten, ganz dicht bei dem Raubmenschen, der Kinder frisst. Wer das Kind trägt, trägt es auch fort. Wer sich ihm demütig naht, tritt ihm auch sträflich zu nahe“.

Mit der Geschichte des tumben Toren Abel Tiffauge, als seinem Protagonisten, spannt der Autor Michel Tournier in seinem bei seinem Erscheinen mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman einen weiten Bogen – von der historischen Figur des französischen Mittelalters Gilles de Rais (1407 – 1440), einem Marschall Frankreichs im Alter von 25 Jahren und Weggefährten der Jeanne d’Arc. Der später von seiner Burg Tiffauge in Südfrankreich aus Raubzüge in ihre unmittelbare Umgebung unternimmt. Um sich zahlreiche von ihm gefolterte und getötete Knaben und Mädchen als seine persönlichen Opfer anzueignen. Ehe man ihn 1440 mittels Exekution für immer aus dem Verkehr zieht. Seitdem hat er im Volksmund in Gestalt des Ritter Blaubart überlebt. Dessen Namens sich Tournier für jenen des Rosses bedient, auf dem Abel Tiffauge in Ostpreußen unterwegs ist.

Weitere zu empfehlende Lektüre: Georges Bataille: Gilles de Rais, Leben eines Kindermörders, Merlin Verlag Hamburg, 1967; Paul Moors Biografie und Briefwechsel des schwulen Kindermörders Jürgen Bartsch im Rowohlt Verlag der siebziger Jahre. Sowie zahlreiche Presseveröffentlichungen zum Fall des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy aus der jüngst verflossenen Zeit, der an seiner Vorliebe für aus dem Internet heruntergeladene Fotos nackter Knaben scheiterte.

Ein Unbehagen war an allen Teilnehmern der lebhaften Diskussion zu spüren. Ebenso wie die Tendenz, andere tabubehaftete Bezüge auszusparen. Etwa im Fall des ebenfalls anrüchigen und umstrittenen Themas der „Griechischen Knabenliebe. Oder die Tatsache, dass es kaum vierzig Jahre her ist, dass die Begriffe Knabenschänder und Schwule  identisch waren. Auch ein weiteres Thema würde den Rahmen gesprengt haben, nämlich der in der schwulen Szene und Community anzutreffende Trend und die Vorliebe zur Mythologisierung und Fetischisierung jugendlicher Bezüge als solcher.

Beim nächsten Treffen in vier Wochen wird sich die Gruppe mit einem anderen, leichter zugänglichen Titel befassen. Nämlich Edouard Louis jüngst im S.Fischer Verlag erschienen Roman „Das Ende von Eddy“Einem hochgelobten und alle Erwartungen rechtfertigenden Zeugnis von Fremdenhass, Rassismus und Homophobie. Mit dem blutjungen Eddy als Protagonisten und strahlenden Erscheinung, dem es gelungen ist, die Rolle des schwulen geschlagenen, getretenen und bespuckten Opfers abzustreifen, um eine herrliche Metamorphose in die Gestalt des vielversprechenden Angehörigen der jungen Literatur- und Philosophieszene in Paris zu vollziehen.

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