Wie immer am letzten Freitag im Monat war es auch am vergangenen 30. Januar soweit, dass sich die Teilnehmer am Schwulen Literarischen Salon begegneten, um sich über ihre Lektüre des Romans Sibylle Bergs „Vielen Dank für das Leben“ auszutauschen und dies zum Anlass einer lebhaften, teils kontrovers geführten Diskussion zu nehmen.
Im Oktober war man sich angesichts des Romans Notre Dame des Fleurs noch einig, es in dem Werkt Jean Genets mit dem klassischen Beispiel eines Zeugnis nicht nur der schwulen- sondern Welt-Literatur zu tun zu haben. Das seit seiner 1953 im Pariser Verlag Gallimard erschienen Originalausgabe nichts eingebüßt hat von seiner Lebendigkeit, Frische, sprachlichen Brillanz und Schönheit. Jedem einzelnen seiner Leser den Eindruck eines echten Leseerlebnis vermittelnd.
Auch im November waren sich die Teilnehmer am Literatursalon noch einig, mit der Wahl des Bandes Die Verschwulung der Welt einen guten Griff getan zu haben. Zwar kein Werk der belletristischen Literatur, aber ein Zeugnis des Austauschs zweier Kulturen, zwischen Abendland und Morgenland. Welcher auf Anregung des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) zustande kam. Mit Joachim Helfer als deutschem Teilnehmer und Rashid-al-Daif auf der arabischen Seite, als bedeutendem libanesischen Autor. Dessen kulturell bedingten Vorbehalte gegen Joachim Helfers homosexuellen Orientierung – trotz Weltoffenheit und intellektuellen Furors und Elans – unterschwellig immer spürbar war. Was die Lektüre der Schrift spannend machte und anregend gestaltete. Als Auseinandersetzung zweier Gesprächspartner, die sich einig waren in der ungeschminkten und nicht zensierten Veröffentlichung ihrer jeweiligen Beiträge. Ausgenommen davon die libanesische Ausgabe der Publikation. Die sich auf die Veröffentlichung des Beitrags Rashid-al-Daifs beschränkte, weil die Stellungnahme Joachim Helfers der arabischen Öffentlichkeit offenbar nicht zumutbar war.
Der Monat Dezember bedeutete eine Unterbrechung der Kontinuität im Rahmen der regelmäßigen Treffen des Salon – aufgrund der Weihnachtspause.
Erst am 30. Januar war es dann wieder soweit, die Gelegenheit der Wiederbegegnung zum Anlass einer Diskussion über den Roman Sibylle Bergs zu nehmen. Einer in der DDR geborenen und aufgewachsenen Autorin, die 1984 via Aufnahmelager Berlin-Marienfelde in den Westen rübermachte und heute in der Schweiz lebt.
Anhand der Lektüre ihres Werks waren sich alle von der ersten Seite an darin einig, sich auf besondere Weise in Anspruch genommen zu erfahren. Was der polarisierenden Wirkung des Romans zu verdanken ist. Was ihn betrifft, meint Jan Klüver in der Welt : Das ist kein Roman, das ist ein Manifest! Was auch meinem Eindruck entspricht. Eine Erkenntnis, die mir die Lektüre erleichtert hat. Als die einer satirisch zugespitzten Kapitalismuskritik und einer solchen am real existierenden Sozialismus der DDR. Allen zur Lektüre empfohlen, die bereit sind, sich darauf einzulassen. Ungeachtet der Tatsache, dass der fälschlich als solcher apostrophierte Roman allen Leseerwartungen widerspricht. Weil es sich in ihm, obwohl er dies verspricht, nicht um einen Entwicklungsroman im klassischen Sinn handelt. Obwohl der Entwicklungsbogen des Protagonisten Toto weit gespannt ist. Von der Zeit seiner Geburt und seines Aufenthalts in einem Heim in der DDR bis zu seinem bedauernswerten Tod als Clochard unter den Brücken von Paris.
Dazwischen entspinnt sich ein Bilderbogen einander abrupt ablösender Ereignisse, in dessen Rahmen der Protagonist in den Augen seiner Umgebung als Monstrum, Außenseiter, Neutrum in Erscheinung tritt und als die, laut Klappentext, personifizierte „Güte, Unschuld, Liebe“. Als Ergebnis seines/ihres nicht eindeutig zu definierenden Geschlechts. Den Eindruck vermittelnd, aus der Welt gefallen zu sein. Als Wesen, dessen Entwicklung zur eigenen Identität immer dann abbricht, wenn der Leser den Eindruck gewonnen hat, angekommen zu sein. Was einer höchst unbefriedigenden Erfahrung entspricht. Und zwar von der ersten Seite an bis zuletzt. Unterbrochen durch den auf halber Strecke des „Romans“ vollzogenen Wechsel des Geschlechts. Sodass der Protagonist, anfangs noch er, spätestens ab diesem Zeitpunkt als sie in Erscheinung tritt. Seinem Wesen an zunächst ein Hermaphrodit, ab diesem Zeitpunkt dann ausschließlich Frau – trotz allem aber weiter: Toto. Als dessen/deren Gegenspieler sich von Anfang an Kasimir entpuppt. Der über weite Strecke hin Totos Geschicke lenkt. Und mit dessen Hilfe die Handlung in Bewegung bleibt. Ehe sie schließlich in Paris im losen Ende des abrupt abgeschnittenen Lebensfadens Totos ihren beklemmenden Höhepunkt findet.
Das Resümee der Gesprächsteilnehmer bestand in der Erkenntnis, es in dem Roman Sibylle Bergs mit einem zwar unbefriedigenden, alles in allem genommen aber dennoch anregenden Leseereignis zu tun zu haben. Schwankend zwischen vorbehaltloser Zustimmung und Kritik. Ein Buch, das keinen kalt lässt. Abgesehen von denen, die davor kapitulierten und das Handtuch warfen, weil sie nicht bereit waren, sich auf eine solche Achterbahnfahrt der Gefühle einzulassen.
Im Februar steht die Lektüre und Diskussion über eine im Zürcher Verlag Kein & Aber erschienene Anthologie an: „Der Mann meines Lebens“ Und im März der Roman „Erlkönig“ des im Dezember mit über 90 Jahren verschiedenen französischen Autors Michel Tournier. Man darf gespannt sein.